VIP

«Er ist es. ER IST ES!»
Die jüngere Dame zupft ihren Begleiter wild am Ärmel. Es ist «Tim Wielandt!»
Mein Vetter Tom und ich besuchen die Premiere von «West Side Story» auf der Thuner Seebühne. Schon Tage voraus haben uns die Glamour-Blätter dieses Landes das Ereignis schmackhaft gemacht:
«Die VIP dieser Welt werden sich ein Stelldichein im Antlitz der Jungfrau geben!»
Natürlich war Tom weniger scharf auf die Jungfrau, als auf die VIP: «Vielleicht kommt Julia Roberts. Ich wollte Julia schon immer mal?Hallo? sagen?» Also kaufte ich Billette. 14. Reihe. Vorne war für die Grossen dieser Welt reserviert. Ab Reihe 10 bist Du im Rang der Unbeachteten. Mir konnte es recht sein. Erstens hatte ich eh nichts Anzuziehen, was für ein «Vogue»-Titelblatt in Ordnung gewesen wäre. Und zweitens: Ich habe Brad Pitt einmal an der Basler Art am Käsebuffet von Hubert Erni getroffen. Hubert Erni stellte mir den Mann vor: «That?s Brad Pitt? that?s -minu.» «Ohhh?», sagte Brad. «Ohhh? I love your cheese?» Herr Pitt hielt mich für den Käselieferanten.
SOLCHES SOLLTE MIR NIE MEHR PASSIEREN.
In der 14. Reihe ist da keine Gefahr. Dennoch macht diese Zicke vor mir nun total auf hysterisch: «Er hat sich die Brusthaare abrasiert? aber ich erkenne ihn mit und ohne? oh Tim!»
Ich versuche in der Menge einen brusthaarlosen Typen ausfindig zu machen. Und flüstere zu meinem Vetter: «Wer ist dieser Wielandt?» Tom verdreht die Augen:
«Du bist einfach hoffnungslos? nirgendwo hat es so viele Miss- und Misterwahlen wie in der Schweiz. Und Du kennst nicht einmal Tim?! Ja schaust Du denn nie Glanz und Gloria?!»
Tom schaut immer. Er hofft stets, jemanden auf der Mattscheibe zu erkennen. Aber da es sich immer um dieselbe Zürcher Cervelatrunde dreht, ist ihm bis jetzt nur Herr Bucheli vertraut. Herr Bucheli ist ein Wetterfrosch. Er steht somit ganz oben auf der Wetter- und VIP-Leiter. Doch wenn die grosse, internationale Welt hinter dem Üetliberg, wo es auch noch ein Leben gibt, energisch auf den Tisch klopft und der Schweiz den Mahnfinger zeigt: «Jetzt lasst uns mit euren Wetterfröschen und all dieser fuzzigen Gloria-Glorie in Ruhe? ihr werdet doch sicher jemanden mit internationalem Format in den Reihen haben!»? wenn also das Ausland diese Alarmglocken anschlägt und selbst das Zürcher Lokalfernsehen nicht mehr ein noch aus weiss, dann holt das Land der Hirten sein Grand-Prix-Heidi, unsere Lys Assia aus dem Sauerstoffzelt.
«Ich erwarte Standing Ovations?», lächelt diese Dame etwas verwirrt. Und irgend ein Kameramann fragt natürlich auch hier: «Umhimmelswillen? wer ist das Jahrhundert-Barby?» «Oh mein Papa?», flüstert der Kollege. «Oh mein Gott!», seufzt der Kameramann.
Natürlich ist mir klar, dass ein Land mit knapp sieben Millionen Einwohnern kein Riesenpotenzial an Promis zu bieten hat. Da muss man sich auch nicht wundern, dass die Zürcher Hochglanz-Illustrierte Cervelat-VIPs produziert, dass es nur so klöpfert. Worüber sonst sollte man an der Schweizer Premiere von «Sex and the City» berichten, wenn doch alle grossen Namen nicht nach Zürich kommen und dann gottlob zumindest Miss Elégance aus dem Jahre 1999 und die Wetterfee von Konolfingen in der ersten Reihe sitzen.
Dito nun auch in Thun. «? der dort», zischt mir Tom zu, «der, welcher sich jetzt zu seiner Freundin beugt, das ist Tim Wielandt!»
«Ist das der mit dem Bauernhof?»
Tom ist dem Weinen nahe: «Nein, Du Depp? das ist der Blumenthal. Aber der ist doch in den USA im Urlaub. Ein paar Minuten Glanz und Gloria am Tag würden Deinen IQ wirklich etwas aufpolieren?» Ein bisschen später singen die Girls auf der Bühne: «I want to be in America?» Etwa 100 Cervelats summen in den ersten Reihen mit. Sie kennen das Lied. Und sie kennen den Wunsch?
P.S. Beim Hinausgehen komme ich Tim ganz nahe? er musste sich die Schuhe binden. Und das vor mir. «Hallo Tim», lächle ich ihm zu. «Ohhh hallo?», lächelt er unsicher zurück. Ich könnte ihm jetzt sagen, wie man Körperhaare wirklich gut entfernt. Aber ich möchte nicht, dass er mich für eine Kosmetik-Tussi hält?

Montag, 11. August 2008