Verhasste Rosen

Sie hasste die Rosen der Nachbarin.
Sie mochte überhaupt keine Rosen.
Vielleicht weil sie nie welche bekommen hatte. Aber ihr Äusseres war eben nie rosig gewesen ? und ihr Inneres eine Schutthalde dunkler Gefühle. Als Kind schon musste sie erleben, dass die Menschen etwas irritiert vom Kinderwagen zurückschreckten. Sie wussten nicht, was sie der Mutter sagen sollten.
Es gab nichts zu bejubeln ? keine süssen blauen Augen (die waren schief und von einem milchigen Grau). Keine blonden Löckchen. Kein Lächeln.
«Ein interessantes Kind», rangen sich die Leute zu einem Kommentar durch. Doch Irene konnte schon mit zwei Jahren ihre Gedanken lesen: «UM HIMMELS WILLEN ? DIE ARMEN ELTERN!»
Mit Eltern war nichts. Der Vater hatte sich nach ihrer Geburt davongemacht. Und auch hier spürte die Kleine schon bald: Die Mutter gab ihr die Schuld.
Sie wuchs freudlos heran. In der Schule machten sie einen Bogen um Irene. So wurde das Mädchen verschlossen, mürrisch. Nun ja ? bitter. Ein kleiner Kotzbrocken.
«Die arme Mutter», seufzte auch die Lehrerin. Und versuchte loyal das Positive hervorzuheben: «Irene hat das Zeug für die höhere Schule ?»
Sie studierte Physik und Raketenbau. Und bekam mit, wie einer der Studenten flüsterte. «Man müsste sie ins All schicken. Und auf dem Radar verlieren ?»
Sie war gut in ihrem Job. Man respektierte ihr Können. Aber man liebte sie nicht.
In Amerika scheffelte sie viel Geld. Einmal überlegte sie sich die Sache mit der «Schönheitsoperation». Als der Chirurg ihr zunickte und meinte: «Wir fangen mal mit der Nase und den unregelmässigen Ohren an. Später arbeiten wir uns vor ?» ? da wusste sie: NEIN. BRINGT NICHTS.
Irene haderte weiterhin mit ihrem Schicksal, das sie mit Dornen auf die Welt losgelassen hatte.
Sie musste zusehen, wie andere Frauen Rosen bekamen. Wenn sie einmal mit einem Arbeits­kollegen in einem Restaurant sass, machten die Rosenverkäufer einen Bogen um den Tisch. Das schmerzte.
Sie kam in die Schweiz zurück. Kaufte sich ein Reihenhaus. Und liess den Garten zubetonieren. Umso mehr ärgerte sie sich über die Rosen ihrer Nachbarin. Sie kannte die Frau nicht. Irene mied jeglichen Kontakt mit den Leuten in der Strasse. Aber immer im Juni warfen die üppigen Zimt­rosen Blüten auf den grauen Beton. Das nervte Irene. Es störte ihr zugeteertes Gleichgewicht.
Einmal schnitt sie ein paar der blühenden Stengel ab. Und warf sie der Nachbarin ins Gras.
Am Abend klingelte es.
Das Erste, was sie sah, war ein üppiger Rosenstrauss: «Ich glaube, den haben Sie sich wirklich verdient. Immer müssen Sie meine Rosenblätter wegputzen und ?»
Irene stierte auf die Rosen. Dann erst sah sie das Gesicht der Nachbarin ? es war von einem ­riesigen Muttermal entstellt. Die Lippen waren aufgeschwollen wie eine geplatzte Eierfrucht. Nur die Augen schauten warm wie zwei Sonnen.
«Rosen sind meine grosse Freude», sagte die Frau. Und musste zusehen, wie Irene plötzlich weinte. Es schüttelte sie wie ein Baum im Sturm.
Ratlos stand die Nachbarin da. Irene nahm sie an der Hand. «Bitte kommen Sie herein ?»
Zwei Monate später schauten die beiden Frauen zu, wie sich drei Männer mit ratternden Bohr­maschinen über den grauen Beton hermachten. «Es ist, als würde mein Herz aufgebrochen ?», lächelte Irene.
«Carolina-Rosen kommen hier am besten ?», sagte die Nachbarin.

Montag, 3. Juni 2013