Unterdrückte Neigungen

Jean sass vor dem Frisierspiegel. Wie eine Reihe gold funkelnder Bomben standen Selmas Lippenstifte auf der Kommode.
Jean wählte Erdbeerrot. Nummer?5?.
Als er den Stummel rausdrehte, wehte ihm ein süsslicher Duft entgegen. Jean spürte, wie ihm die Hose enger wurde. Zitternd gab er dem etwas schmalen Mund unter dem Schnurrbart Farbe. Dann presste er die Lippen auf einem Kleenex-Blatt zusammen? so wie er es bei Mamma immer gesehen hatte.
Jean öffnete nun die Schublade, in der Selma ihre Höschen aufbewahrte. Vorsichtig zog er einen Slip heraus. Hielt ihn ans Gesicht. Schnüffelte. Und hörte, wie sein Herz wild hämmerte. Dann machte er sich an die Strümpfe (die Selma freilich nur während der Wintersaison trug). Er schaute auf die Uhr: noch 120 Minuten? gottlob ging Beethoven immer etwas länger. Und wie er Selma kannte, ging sie nach dem Konzert mit Hilde noch auf ein Glas in eines dieser «In»-Lokale.
Jahrelang hatte Jean seine Neigung unterdrückt. Immerhin war er CEO einer Grossfabrik. Oberst im Generalstab. Und Vorgesetzter einer nam­haften Zunft. SO ETWAS TRUG KEINE ROTEN DAMENDESSOUS ODER WEIBERFUMMEL. Weder an einer Fasnacht. Noch an einem Betriebsball.
Mit Schaudern erinnerte er sich an jenen grauenvollen Kompanie-Abend, als er als junger Hauptmann eines der vier Schwänchen hätte tanzen sollen. Ausgelassen hatte man im Theater Tütüs organisiert. Als Jean bebend vor Aufregung die Strumpfhosen überzog und das Tüllröckchen anschnallte, da spürte er deutlich die Beule in der Hose. DER TÜLL WAR NICHT DAS EINZIGE, DAS HERVORSTAND?
Jean täuschte in Panik einen Kreislaufkollaps vor ? so tanzten nur drei Schwänchen.
Nie hätte er seinen sexuellen Wünschen nach­gegeben. Doch jahrelang träumte Jean davon, wie er Selma als Frau verführen wollte.
Einmal hatte er eine «Professionelle» angerufen. Im Inserat stand: «Liebes Fraueli kennt sich aus? grosser Busen.»
«Halloooh», gurrte eine Stimme, süss und schwer wie Zuckerwatte aus Blei.
Er versuchte etwas zu sagen. Es kam nichts. Die Nerven versagten. Und «WIXER!»? zischte die Stimme nun nicht mehr zuckerwattig. Dann hatte das «liebe Fraueli» aufgehängt.
Okay. Er hätte sich auch selber ein paar heisse Dessous besorgen können. ABER DER KICK LAG EBEN GERADE DARIN, DASS ES GETRAGENE WÄSCHE SEIN MUSSTE. Wie damals, als er bei Mamma an ihre Kommode ging. Nie wird er vergessen, wie sie ihn vor dem Schlafzimmerspiegel entdeckte: kirschrote Lippen. Und mit einem schwarzen Schlüpfer, der an ihm wild herum­flatterte. Seine Mutter hatte immerhin eine stattliche Damengrösse 46. Und er war noch nicht mal Bubengrösse.
Nie hat sie ein Wort darüber verloren. Hat einfach die Schlafzimmertüre zugemacht. Und künftig Lippenstift wie Schlüpfer weggesperrt.
Jean schaute in den Spiegel? er wippte keck mit den Hüften. Und er spürte dieses unsagbare Lustgefühl in Selmas Höschen und ?
«JEAN!»
Verdammt? nicht einmal auf Beethoven war mehr Verlass!
Sie sprachen nie über den Zwischenfall.
Aber sie schliefen künftig getrennt. Redeten nur das Nötigste. Und gaben nach aussen hin das glückliche Ehepaar.
Fünf Jahre nach dem Vorfall setzte Jean mit der Armeepistole allem ein Ende: SCHUSS DURCHS HERZ.
Er trug dabei Selmas Höschen. Und ein glückliches Lächeln auf den Lippen? erdbeerrot. Nummer?5?.

Montag, 13. Mai 2013