Tödlicher Besuch...

Sie mochte den Mann nicht.
Aber sie hatte keine Wahl.
Svetla küsste ihren rosa Teddybären. Drückte ihn an sich: «Na, dann wollen wir mal...»
Sie öffnete die Tür der schäbigen Kammer und zog die Vorhänge: «Komm herein, Udo...»
Aufgewachsen war Svetla in Irkutsk. Die Stadt war grau. Und in den Wintermonaten sibirisch eisig.
Ihre Mutter arbeitete in einer Konservenfabrik. Sie verschraubte eingemachte Preiselbeeren in Gläser.
Und brachte Tonnen von den Beeren heim.
NACH IHREM 10. GEBURTSTAG HAT SVETLA KEINE PREISELBEERE MEHR ANGERÜHRT!
ABER WIRKLICH KEINE EINZIGE.
Die Mutter zankte sie aus: «Da hättest du mal den Krieg erleben müssen. Noch schlimmer: die Kommunisten. Meine erste Ananas habe ich unter Gorbatschow gegessen...»
Mit 14 haute Svetla aus Sibirien ab. Das Mädchen fuhr drei Tage bei Eiseskälte in einem Güterwagen nach Moskau. Dort lebte es auf der Strasse. Stand vor den Schaufenstern mit den Luxusartikeln. Und verkaufte seinen Körper erstmals für eine Billiguhr.
Igor, ein gutaussehender Rumäne, wurde ihr Freund. Er hatte viele Mädchen, die für ihn anschafften.
Aber? so sagte er? Svetla sei seine ROSE. Und er wolle mit ihr auf die Hochzeitsreise gehen.
In der Schweiz mietete er dem Mädchen für drei Monate ein Zimmer über einer Bar. Dort konnte es seine Freier empfangen. Einmal monatlich holte er das Geld von seiner Rose ab.
Svetla mochte ihre Vermieterin. Sie war ein Raubein, aber sie trug das Herz auf dem rechten Fleck. Und setzte sich für «meine Mädchen», wie sie ihre weiblichen Pensionsgäste nannte, ein.
So schickte sie diese nicht nur wöchentlich zum Arzt. Sondern auch in eine Sprachschule. Machte einer der Freier Radau, donnerte sie an die Türe.
Und holte den Mann eigenhändig aus der Kammer.
Wenn die Behörden bei Razzien den nötigen Respekt vermissen liessen (doch das kam? so musste Svetla zugeben? höchst selten vor) bellte die Vermieterin: «ICH VERBITTE MIR EINEN SOLCHEN TON BEI MEINEN FRAUEN? WO IST IHRE KINDERSTUBE, MEINE HERREN!»
Das Raubein war dann ganz Dame. Und ihre Pensionärinnen liebten sie dafür.
Als Udo zum ersten Mal auftauchte, hatte sie ein ungutes Gefühl: Milchgesicht... Pickel... und dann diese toten Augen, so blassblau wie ein Gletscherteich.
Er wollte die schnelle Nummer. Keuchte die zehn Minuten ab. Und legte ihr wortlos 150 Franken auf den Ikea-Stuhl.
Beim dritten Mal fesselte er sie gegen Aufpreis.
Und das letzte Mal musste sie Kinderkleidchen tragen. Und mit Igor, dem Teddybären, spielen.
Das rosafarbene Plüschtier mit der weissgetupften lila Schleife war das einzige Geschenk, das sie je von Igor bekommen hatte. Also nannte sie den Bären Igor. Er wurde ihr Vertrauter in den allermiesesten Tagen. Und er durfte bei ihr schlafen, ohne Geld auf den Ikea-Stuhl zu blättern.
Diesmal wollte Udo die totale Sado-Nummer. Er knebelte sie. Und als er zustach, sickerte ihr Blut auf das Plüschfell des Teddybären.
«Preiselbeerenrot», dachte Svetla. Es waren ihre letzten Gedanken.
Udo sass auf dem Stuhl. Seine blassblauen Augen schauten zu, wie die Frau auf dem Bett verblutete.
Zum ersten Mal lebten seine Augen.
Das Raubein weinte tagelang um Svetla.
Dann liess sie Igor reinigen. Und setzte ihn auf ihren Fernseher.
Ein bisschen konnte man noch das Preiselbeerenrot auf seinem Plüschfell ahnen...

Montag, 9. Januar 2012