Tante Amélie

Amélie Schlumberger hätte das Kind gerne erwürgt.
Seit 30 Minuten brüllte der Schreihals nonstop. Und seit zwei Stunden stahl er ihr die Schau.
DABEI WAR ES AMéLIES GEBURTSTAGSFEST! Und der kleine Scheisser ein schreiender Störfaktor.
FÜR DIESES NERVIGE «GOTT IST DER ABER SÜSS»-GEFLÖTE, DAS GLEICH ZU BEGINN DES FESTES UM DEN BUBEN ANHOB, HATTE SIE WEISS GOTT NICHT DEN SAAL DES ZOO-RESTAURANTS GEMIETET! (und dazu noch das drittbeste Menü ausgewählt? man wurde schliesslich nur einmal 90!).
Als Erbin eines Millionenvermögens hatte es nie an Bewerbern gefehlt. Aber wenn Amélie sich ausmalte, welche Ansprüche die Männer in der Hochzeitsnacht an eine Braut zu stellen pflegten, klemmte sie die Knie zusammen. Bekam Gänsehaut. Und nie Kinder.
Die ledige Tante wurde an Festtagen in der Familie herumgereicht wie der Brötchenkorb bei Tisch.
Sie war für ihre bissigen Bemerkungen gefürchtet. Und ihr Alkoholkonsum wurde mit einem miss­billigenden Blick quittiert (in weniger vornehmeren Kreisen hätte man sie als «Schluckspecht» taxiert. Hier hiess es einfach: «Die arme Amélie hat ein Problem!»).
Gut. Sie war zweifellos ein Kotzbrocken? aber ein Kotzbrocken mit Geld. Und nach diesem lechzte die Verwandtschaft, wie die Diabetiker nach der Torte.
Nun schrie dieser Winzling noch immer wie am Spiess. Hatte Eifersucht Medea zum Messer greifen lassen?? NEIN. ES WAR DAS GESCHREI SOLCHER KINDER!
«Magst du Hubert mal auf den Schoss nehmen, Tante Amélie?»
Die 90-Jährige wedelte die Nichte mit dem tobenden Kleinen energisch weg: «NICHT JETZT!»
Ein Leben lang war sie als unfruchtbare Tante mit dem Mitleid der Frauen übergossen worden: «? keine Kinder?? du weisst gar nicht, was dir da entgeht?»
SIE WUSSTE GANZ KLAR, DASS IHR NICHTS ENTGING.
«Jetzt hab dich nicht so, Tante Amélie? der kleine Hubert will doch auch gratulieren!»? schon drückte ihr die Nichte das brüllende Bündel in die dürren Arme .
Amélie versteifte sich. Sie spürte das warme Paket an ihrem nie aufgeblühten Busen. Und hastig griff sie zu ihrem Täschchen, wo ihr Flachmann mit dem Birnenschnaps gegen solchen Nervenstress bereitlag. Sie setzte die Flasche an. Und liess auch Klein-Hubert am Flachmann nuggeln.
Nach zehn Minuten pennte der Kleine zufrieden. Und: «Du hättest Kinder haben sollen, Amélie? so wie du mit denen fertig wirst», flötete die Familie.
Sie wollte keine Kinder. Sie wollte endlich ihr Fest!
20 Jahre später war es Hubert, dessen Geburtstag gefeiert wurde. Als Einziger der Familie hatte er von Tante Amélie ein Legat von fünf Millionen vermacht bekommen.
Nun hatte er alle zu einem Fest in eine Nobelbeiz gerufen. Und liess es krachen.
Natürlich stiess der Sippe so etwas auf: «Hubert, Hubert? diese unnötige Prasserei? denk an die Zukunft und deine Kinder?»
Er juckte auf: «KINDER?? es gibt keine ­Kinder? ich werde mit Alfred zusammenziehen? Adoptionen kommen bei uns beiden nicht in Frage?»
Die Familie schwieg pikiert.
Hubert hob grinsend seinen Flachmann: «Auf Tante Amélie?»

P. S. Der Rest von Amélies Vermögen war an den Zoo gegangen. «Zur Aufzucht von Jungtieren?», wie es in der Testamentsbestimmung hiess.

Montag, 16. September 2013