Süsser Traum

Milli? eigentlich Emilie, aber kein Mensch rief sie so ?, Milli stand vor dem Konditorei-Schaufenster. Milli seufzte. Sie sah ein Tablett mit gelblichen Diplomats. Der Konditor hatte die Crème Patissier mit kandierten Früchte-Carrés gespickt. Und in gefälteltes Papier abgefüllt.
Milli atmete schwer. Und versuchte, eisern zu bleiben. Sie merkte, wie sie energisch den Kopf schüttelte. Aber unsichtbare Kräfte zogen sie ins Geschäft.
«Dlingdlang»? freute sich die Türe. Sie war das einzig Erfreute.
Die Verkäuferin, eine ziemlich schnippische Elsässerin, schaute von ihrem Handy auf: «Wos wänner?»
Milli hatte es die Sprache verschlagen. Aber der kleine, dicke Zeigefinger zeigte zitternd zu der Diplomat-Parade. Und die Augen gierten auf die dickliche Crème mit den bunten Tupfen.
Die Elsässerin legte seufzend ihr Handy beiseite:
«Combien derfs sy, Modame?»
Und eh Milli wusste, wie ihr geschah, flüsterte sie: «Alle ? die ganze Platte ?»
Dann hauchte sie geniert: «Es ist? ähemmm ? für ein Fest ?»
«Jä suuu», brummte die Verkäuferin. Und faltete einen flach gedrückten Karton zu einem stabilen Koffer zusammen. Sie nahm nochmals das Handy auf: «Y koo jetzt net ? je te rappelle en cinq minutes ?»
Milli liess die diplomatische Süsspracht keine Sekunde aus den Augen. Seit drei Wochen war sie nun in dieser Kur mit der Gemüsesuppe.
ES WAR IMMER GEMÜSESUPPE. Sie suppte zum Frühstück. Zu den Mittagsnachrichten. Zu «Verbotene Liebe» auf ARD.
Noch nie hatte Milli in ihrem Leben so viele Karotten, Kartoffeln und Lauchstängel geschnippelt. Nein. Hungern musste sie bei dieser Kur nicht. Aber viel schnippeln.
Als sie auf Druck ihrer halbwüchsigen Töchter («Mammi? du paffst uns alle aktiv in den Passivtod!») das Rauchen aufgegeben hatte, explodierte sie auseinander wie diese chinesischen Chips, die man in Fett ausbrätelt. In ihr loderte nonstop Lust auf Süsses? auf Eierliköre und schwabbelnde Puddings, Schokotorten und Caramel-Mus.
Milli sprengte bald einmal alle Blusen. Sie sah so beängstigend prall aus wie die Siedwurst vor dem Platzen. DA MUSSTE ETWAS GESCHEHEN. UND ES GESCHAH DIE SUPPENKUR.
Immerhin? nach der ersten Woche stellte sich das Erfolgserlebnis ein: fünf Pfund weniger. Beflügelt jagte Milli zu ihrem Türken. Lud den Kleinwagen mit einer halben Ernte voll. Und schnippelte wild weiter.
In der zweiten Woche waren es noch drei Pfund minus. Gestern, nach Ablauf der dritten Woche: knappe 400 Gramm.
DER FRUST KAM WIE EIN HAMMERSCHLAG. Und die Konditorei-Auslage auch.
«62.90, Modame? wenns bliebt.»
Dafür hätte sie sich auch einen Hometrainer kaufen können.
Wortlos verliess Milli das Geschäft. In der Bahnhofsanlage setzte sie sich auf eine Bank. Öffnete den Kartonkoffer. Und drückte sich mit einem orgiastischen «Ohhhhh» die gelb-dickliche Crème direkt vom Papierkübelchen in den Mund ab.
«Ohhhhhh!»
«MILLI!», tönte es jetzt energisch. Emilie öffnete die Augen. Rolf stand neben dem Bett. Und hielt ihr ein Tässchen hin: «Du hast ganz unruhig geschlafen, Liebes ? und immer hast du etwas von Diplomaten geschwafelt ?»
Sie lächelte verträumt: «Danke, Rolf.»
Dann nippte sie an der Frühstückstasse mit der Gemüsebrühe.
Und freute sich, dass das Süsse in ihrem Leben nur ein Traum war.

Montag, 4. November 2013