In meiner Kinderzeit gabs noch Theaterröcke.
Tönt theatralisch. War aber folgendermassen: Immer wenn im Herbst die Theatersaison startete, holten Mutter, Tante, Oma ihre Theaterkleider bei Frau Marti ab.
Frau Marti war das, was man wohl den «Dior der kleinen Leute» nannte. Die kleine Frau, die den Mund stets voller Stecknadeln hatte und statt eines Colliers ein Metermass um den Hals trug, wohnte vis-à-vis meiner Kembserweg-Omi.
Frau Marti kreierte für unsere Frauen jede Saison das, was damals als «Theaterkleider» im Kasten aufgehängt wurde.
Theaterkleider waren lediglich fürs Theater bestimmt. Es wäre frivol gewesen, den Theaterrock an einer Hochzeit zu tragen. Oder den dunklen Schauspiel-Tailleur zur Beerdigung. Für solche ausserprogrammmässigen Einsätze kam Frau Marti dann erneut zum Einsatz.
Jede Saison gabs zwei Theaterkleider: ein «Kurzes» fürs Schauspiel. Und ein «Langes» für Oper, Operette und Ballett - oder wie Vater es nannte: «Lotti wirft sich den Musikantenfahnen an den Ranzen!»
Das Schauspielkleid war meistens ein dunkles Deuxpièces mit kleinem Hütchen, das von den Turène-Damen aus demselben Stoff geschaffen worden war.
Für den Opernrock hatten die Frauen ins Dramatische gegriffen - sie waren von den Chordamen in der «Lustigen Witwe» kaum zu unterscheiden: Glimmerstoffe mit imposanten Blumenmustern wurden zu tulpenförmigen Jupes verarbeitet - dazu schulterlose Oberteile mit Ausschnitten, die tief blicken liessen. Und natürlich: hochhackige Schuhe.
Kaum zirpten die Geigen in der Ouvertüre, hob in allen Logen ein zartes Gerumpel an. Die engen Pumps wurden mit einem glücklichen Seufzer abgestreift. Die Füsse gingen daraufhin auf wie Hefeteig an der Sonne. Und so manche trug ihre «Theaterschuhe» auf dem Heimweg in den Händen.
Im Advent häkelten die Frauen dann Stolen aus dieser langhaarigen Angorawolle, die sich flauschig anfühlte, aber für die feine Haut des Teufels war. Die billigen Farbstoffe hinterliessen Pickel an Schultern und Nacken.
Die Frauen von damals nahmen alles in Kauf, um für einen Opernabend mindestens so imposant zu sein, wie der Theaterkronleuchter. Sie flochten Goldgarn in die Stolen und schlossen das Ganze mit langen Wollzotteln ab, die wie aufgerüschte Mäuse runterhingen.
Das Gestrickte wurden am Heiligen Abend jeweils mit entzückten Schreien wie «ACH TRUDY? SO VIEL ARBEIT!» und «LOTTI - DIESE REGENBOGENFARBEN SIND JA EIN TRAUM» von den Schwägerinnen ausgepackt - so, als hätten die Frauen die Wolldinger vorher nicht mindestens schon 30-mal zur Probe auf den Schultern gehabt.
Wie die Stola gehörte auch das Theatertäschlein (Goldlammé mit Perlen für Musikstücke, schwarzer Satin fürs Schauspiel) zum standesgemässen Outfit eines Mittwochabonnements.
Die Pause war nicht dazu da, die Regie zu kommentieren. Die Kritik drehte sich einzig und allein darum, dass der Papageienstoff von Nelly Blickensdorfer einfach zu schreiend sei. Kurz: Jeder und jede hat das Eigene zu einem spannenden Theaterbesuch beigetragen. Kultur wurde damals nicht einfach nur konsumiert. KULTUR WURDE GEMACHT.
Heute: Jeans. T-Shirt. Rucksack. Birkenstocklatschen. Muss sich keiner wundern, dass da keine grosse Stimmung im Saal aufkommen mag.
So imposant wie der Kronleuchter
Montag, 15. Oktober 2007