«Herr Doktor lässt bitten...!», die Praxishilfe hielt die Türe zum Arztzimmer weit offen.
Trudes Herz klopfte heftig. Irgendwie war das alles falsch. Sie hätte zuerst mit Heinz-Hugo reden sollen. Aber wer kannte ihren Sohn besser als Doktor Bitterli. Er war seit Jahrzehnten der Familienarzt. Und Bitterli kam so zuverlässig wie die Steuerrechnung.
Nun wackelte er auf sie zu. Streckte ihr die Arme entgegen: «Ja hallo, Frau Schmid. Wo brennts? Hoffentlich nichts Schlimmes?»
Trudes erster Gedanke: Himmel? der hat aber heiss zugespeckt!
Trudes zweiter Gedanke: «Nun gut. Er ist ja nun auch schon über 60...»
Trudes dritter Gedanke: «So schade, dass dieser feine Mann kein liebes Fraueli hat...»
Dann streckte auch sie die Arme: «Ach Herr Doktor. Heinz-Hugo macht mir Sorgen...»
Ihr Sohn war 38 Jahre alt. Psychologe. Und noch immer ohne feste Bindung. Zuerst hatte Trude gedacht: klarer Fall von Hotel Mamma? bekocht, gebettet und bedient. Wäsche inklusive.
Nicht dass sie ihn aus dem Haus haben wollte. ABER GANZ UIND GAR NICHT! Ihr Leben war total auf Heinz-Hugo ausgerichtet. Sie war eine dieser Mütter gewesen, die in der grossen Emanzipationswelle der Siebzigerjahre ein Kind, aber keinen Mann dazu wollten. Da kam ihr der damalige Gipser, der ihr Heim restaurierte, gerade recht. Er war die Kelle zum Ganzen, SOZUSAGEN.
Doktor Bitterli schaute sie mit seinen Schweinsäuglein an: «Sie müssen mit Heinz-Hugo reden. Als Psychologe wird er Ihren Kummer verstehen...»
Trude kochte Bohnen auf Speck. Weil er das liebte. Und beim Dessert (Apfelkompott an Vanilleschoten) liess er die Katze aus dem Sack: «Mammi? ich bin schwul!»
Trude war erleichtert. Wenns nur DAS war. Eine Ahnung hatte sie ja schon. Überdies schrieb jede dritte Ratgeberin in diesen Glanzheftchen, dass schwule Söhne die beste Altersversicherung für Mütter wären.
Sie schöpfte ihm von den etwas zu stark verkochten Äpfeln: «Ja und? Da ist doch nichts dabei. Such dir einen netten Freund!»
Heinz-Hugo seufzte: «Das ist nicht so einfach, Mammi. Ich liebe nur Männer 60 plus. Sie müssen Bauch und mindestens 200 Pfund haben. Und dann ist da noch die Sache mit dem Gips...» Nun liess Trude den Löffel in die Glasschüssel mit dem Kompott fallen: «WELCHEM GIPS?!»
Heinz-Hugo tätschelte ihre Hand: «Das ist schwer nachzuvollziehen, Mammi. Ich fahre total auf Gips ab. Ich bin ein Caster? Gips ist meine Lust. Wenn ich ein Gipsbein sehe oder pflastere, bimmeln bei mir die Zimbeln... verstehst du?»
Sie verstand nicht. Machte sich über Google schlauer. Und lernte, dass Cast nicht einfach nur sexueller Gips, sondern eine besondere Form von Fetisch sei.
Trude dachte schuldbewusst an die Kellen-Episode mit dem Heimgipser. OB SIE DAMALS NICHT GESCHEITER ZUM MALER GEGRIFFEN HÄTTE?!... Sie holte sich Rat bei Doktor Bitterli. Der beruhigte sie: «Sexualität ist bunt wie ein Versace-Fummel...»
«Ja», sagte Trude. Und weil ihr nichts Besseres einfiel: «Sind Sie am Heiligen Abend unser Gast, Doktor?»
Es gab Speck auf Bohnen. Und einen elektrischen Lichterbaum.
Als es klingelte, öffnete Heinz-Hugo die Türe: «Hallo Ferdi... unsere erste gemeinsame Weihnacht!»
Trude kam aus der Küche geeilt: «Herzlich willkommen, Herr Doktor!»
Der Gast strahlte sie an: «Darf ich Mammi sagen?»
Da erst sah Trude sein Gipsbein.
Seltener Fetisch
Montag, 7. November 2011