Schenken

Innocent zeigte sich an jenem frühen Adventmorgen sehr vernünftig.
Erstens wählte er Eisenkrauttee statt des üblichen Espressos. Zweitens verzichtete er auf die Wurst zum Zopf. Und drittens tätschelte er meine alte, abgeschaffene Hand väterlich: «Dieses Jahr: KEINE GESCHENKE! Wir sind ja keine Kinder mehr...» BITTE WIE?
BITTE WAS?
Der Tag ist versaut!

Innocent taucht die leicht vertrocknete Zopfschnitte in den zuckerlosen Eisenkrauttee, schlürft sich das gelbe Schlabberweichstück geräuschvoll rein und macht ein Gesicht voll göttlicher Askese: «Wir haben ja alles!»

Ich beisse knurrend in den fingerdick gebutterten Gipfel und gebe noch einen Schlag Nutella drauf: «WIR HABEN ÜBERHAUPT NICHT ALLES! Und ich bin gerne noch ein Kind. Jeder Mensch will ein Kind sein und sich auf Geschenklein freuen...» Innocent wendet sich angewidert ab: «Da wären wir also wieder einmal bei der alten Diskussion - aber ich sage dir eines: Du wirst mir dieses Jahr NICHTS zu Weihnachten schenken, weil ICH dir garantiert nichts habe. Mich nervt es grün und gelb, wenn du das Geld für unnötigen Schund ausgibst. Alle 5 Sekunden stirbt ein Kind, weil es nichts zu essen hat...

Das hungernde Kind serviert er mir auch jedes Jahr zum Advent. Ich würde wirklich schrecklich gerne so einem Kind etwas zu essen schenken. Aber diese Spenden auf irgendein Nummernkonto anstelle eines Weihnachtsgeschenks können mein Herz nicht erfreuen. Die Freude ist zu indirekt. Sie verpufft in der Anonymität: «... wenn ich an alle diese zu entlöhnenden Sozialarbeiter denke, bis das Reis endlich in den Händen der Kinder ist. Also wirklich - ich will direkt geben. Und...»

«Das ist zynisch», schlägt Innocent nun die Faust auf den Tisch. Wenn du direkt geben willst, gibt es genügend arme Familien in unserer Stadt!» «Es gibt auch genügend arme Ladeninhaber, die nicht wissen, wie sie ihren Angestellten den 13. Lohn bezahlen sollen, weil das Geschäft nicht läuft!» - das bin ich.

Die Geschenke-Diskussion ist schon von meinen lieben Eltern bis zum Exzess geführt worden. Einmal ist die Sache soweit ausgeufert, dass unter dem Baum kein einziges Geschenk lag.
ICH HEULTE WIE EINE FANFARE.
Die Grossen versuchten mir einzureden, dass ich nun ein fröhliches Herzlein haben müsse, weil das Geld für die Nicht-Geschenke armen Menschen viel, viel Freude bereiten würde und...»
ICH SCHRIE ZETERMORDIO.
«Du willst doch sicher, dass es andern Menschen gut geht...» versuchte es Tante Martha noch einmal. Sie war Bibellehrerin. Und die andern Menschen waren mir so lang wie breit.
Als ich 30 Jahre alt war, beschloss ich, edel und vernünftig zu werden. «Wir kaufen einander nichts» - verkündete ich Innocent. Und der glaubte an die Wandlung zum Bessern.

Natürlich hielt ich dann doch etwas Kleines für ihn bereit. Denn Schenken bereitet mir fast noch mehr Freude als beschenkt zu werden. Und als ich ihm nach dem Nachtessen das Päckchen mit der goldenen Rolex übergab, machte der alte Geier doch tatsächlich auf hysterisch:» Weshab kannst du dich nicht an Abmachungen halten?!»

Danach machte ich auf hysterisch, weil er sich daran gehalten hatte. Und ich leer ausging.
SO ETWAS PASSIERT NIE MEHR.
Deshalb: «Ok - schicken wir einen Check an die Winterhilfe. Ich werde dir dieses Jahr nichts schenken... oder vielleicht nur etwas Klitzekleines...» Ich mache ein geheimnisvolles Gesicht.

UND ER WEISS HOFFENTLICH, WORAN ER IST!

Montag, 5. Dezember 2005