Rote Rosen

Die Ehe war Durchschnitt. Eine Ehe, wie sie in den 50er-Jahren geführt wurde.
Er hat ihr stets Rosen geschenkt. Rote Rosen.
Denn er war ein einfaches Gemüt? und rote Rosen bedeuteten für ihn: ICH LIEBE DICH.
Worte hat er nie viele gemacht. War nicht sein Ding.
Er konnte stundenlang in seiner Partei über politische Veränderungen referieren. Stundenlang mit seinen Freunden herzlich lachen, Männerwitze zum Besten geben, Polterabende organisieren.
Alle beneideten sie um ihn: «So ein Charmeur. Und immer gut drauf. Gott hast du Glück...»
«Ja», lächelte sie.
Und wusste es besser.
Zu Hause war der Charme ausgelöscht. Der Witz löste sich in Luft auf? der Mann war wie ein Luftballon, der nur draussen Gas gab. Und rund um seine Familie lust- und luftlos zusammenschrumpelte.
«Hallo»? so begrüsste er sie. Und: «Ist der Junge schon im Bett?» Dann hockte er sich vor den Fernseher. Und liess diesen reden.
Sie schliefen schon früh getrennt. Manchmal kam er erst um ein Uhr, zwei Uhr morgens heim. Überstunden? wie er sagte. Als der Junge auszog, bettete sie den Mann im Kinderzimmer ein.
Sie erfuhr, dass die Überstunden Elly, später Susanne und schliesslich Alessandra hiessen. Nach den 20. Überstunden gab sie das Zählen auf.
Die Schwiegermutter hob fragend die Brauen: «Ihr schlaft getrennt?»
«Er schnarcht!»
Nie hätte sie jemandem von den Überstunden erzählt. Sie litt auch nicht sonderlich darunter. Er war «ein guter Mann». UND MÄNNER WAREN EBEN MÄNNER.
Auch ihre Philosophie war einfach. Sie freute sich weiter an den roten Rosen, die nun allerdings nur noch zum Geburtstag kamen. An Weihnachten gabs Kleinverpacktes in Gold.
«Gratifikation», spöttelte die Schwiegermutter, oder einfach nur ein goldenes «Schweig-mein-Liebchen?...»
Die Schwiegermutter war unsentimental, eine gescheite Frau. Ihre Philosophie hiess «jeder muss sein eigenes Leben leben». Ihr Mann hatte ihr nie rote Rosen geschenkt. Dafür hinterliess er nach seinem dritten Herzinfarkt ein stattliches Bankkonto.
«Auch nicht schlecht», sagte die Schwiegermutter.
Das Paar ging 30 Jahre lang getrennt in die Ferien. Ihr Sohn nahm sie mit auf Reisen. «Schwule Söhne sind die besten Altersversicherungen für Mütter»? sagte sie ihren Freundinnen.
Ihr Mann nutzte seine Ferienzeit für Weiterbildungen? mit vielen Überstunden.
«Weshalb lässt du dir das gefallen», hatte ihr Sohn sie einmal im Flugzeug gefragt.
Sie schaute lächelnd aus dem kleinen Fenster. «Er schenkt mir rote Rosen...» Das war hoch in den Wolken.
Einmal schrieb sie ihm einen Brief. Und bot die Scheidung an. Daraufhin hat er drei Monate lang nicht mehr mit ihr gesprochen. An Weihnachten: kein Gold. Aber einen Nerz.
Sie ging unerwartet früh von dieser Welt. Der Sohn heulte. Der Vater war stumm. Versteinert. Er schwieg über ein Jahr. Keine Überstunden mehr.
Später reiste er mit dem Jungen. Und redete stundenlang über sie. Er schaute den Sohn mit roten Augen an: «Ich wollte, ich könnte ihr heute noch sagen, dass sie immer die Einzige war, die ich geliebt habe...»
Es war sein längster Satz über Gefühle.
Später flüchtete er sich wieder in Überstunden.
Auf dem Grab liegen frische Rosen.
Täglich.
Rote.

Montag, 8. August 2011