Reisen

Reisen ist unbequem geworden.
Denn Reisen heisst: Geduld. GEDULD GROSSGESCHRIEBEN.
Also: GEDULD. Im Übrigen besteht eine Reise zu mindestens 30 Prozent aus Warten. Du wartest immer auf etwas: zuerst aufs Taxi. Dann darauf, dass die Rotlichter, welche diesen irren Verkehr in Ägyptens Metropole beruhigen sollen, endlich auf Grün schalten.
Endlich stehst du in der ellenlangen Schlange vor dem Ticketschalter. Natürlich hast du Übergewicht. Das ist nicht etwa persönlich zu nehmen? aber bei deinem Gepäck geht?s nach Gramm. Du wirst mit einem Zettel zu einem zweiten Schalter geschickt. Wartest dort wieder. Berappst deine Mehr-Kilos. Bekommst den Zettel gestempelt. Und stellst dich wieder in die Warteschlange. Deine Nerven tanzen Cha-Cha-Cha. Dein Puls flattert. In 20 Minuten geht der Flug? und vor dir stehen noch fünfzehn weitere Reisende.
Alle auch mit Übergewicht. Du wartest.
Es ist fast ein Wunder? aber das Gepäck ist aufgegeben. Du hast deine Einstiegskarte.
Nun wartest du am Zoll. Dann an der Kontrolle. Dort piepsen die künstlichen Kniegelenke deines Freundes. Alles wirft giftige Blicke. Denn? pieps! pieps!? er muss hin und zurück. Ich bin jetzt auch so weit, dass ich denke, dass alte Menschen ihre Ferien nicht irgendwo im Nahen Osten, sondern in Bad Ragaz oder beim hauseigenen Camping im Sauerstoffzelt verbringen sollten...
Endlich ist auch Passagier Innocent durch. Wir suchen das Gate. Es liegt weit weg. SEHR, SEHR WEIT WEG. So weit, dass du dich fragst, ob sie dich wohl zu Fuss in die Wüste schicken. Dann DINGDONG.
Und eine leicht verkrächzte Stimme, die etwas Arabisches über den Flug Nummer 322 ankündigt. «WASS ISS?»? fragt der Freund. Und versucht die Hörapparate lauter zu stellen. Aber die hat er bei der Leibesvisite abgenommen. In diese graue Schale zum Durchleuchten gelegt.
Und nie mehr rausgenommen.
«MEINE OHREN...», japst er. Und zuckelt den weiten, weiten Weg retour.
Ich fingerle ein SMS an Cousine Eva auf meinem Handy. «WIR WERDEN VERMUTLICH NIE IN SYRIEN ANKOMMEN...
HOLT SCHON MAL DEN WEIHNACHTSBAUM AUS DEM KELLER!» Dann wieder die krächzende Stimme. Diesmal in arabischem Englisch: «Passanger... chhrrr...? mel chrchrr form chrchrdesk...»
Armer Kerl, denke ich. Doch da kommt mein Freund bereits wieder angehumpelt? sein Haar steht wild ab. Ein klares Zeichen dafür, dass er die Apparate in den Ohren hat: «Ja bist du denn taub? Die rufen dich aus... ich habe dir immer gesagt, du solltest mal zum Hörtest und...»
JETZT FINDEN SIE MAL IN DIESEM LABYRINTH DEN INFORMATIONSSCHALTER EINES FLUGHAFENS IN EINER STADT WO RUND 20 MILLIONEN EINWOHNER EBEN DIE ENTBEHRUNGEN EINES RAMADANS HINTER SICH HABEN!
Da ist doch der Teufel los. Aber die Vorsehung weist mir den Weg. Und der nette Herr erklärt mir in sauberem Englisch, dass man mich leider auf einen späteren Flug umbuchen müsse. Und den Herrn Begleiter auch... ICH WARTE AUF EIN NEUES TICKET. Dann bittet man mich das Gepäck zu identifizieren. Auszuchecken.
Und neu einzuchecken.
Bei Sonnenaufgang landen wir in Aleppo.
Ein bärtiger Alter wartet mit einem hochgehaltenen Stück braunem Packpapier.
Darauf steht: MISTER CHUMMEL. Selbst wenn «MISS PIGGY» draufgestanden hätte, hätte ich beim Alten zugegriffen.
«I am terribly sorry...», entschuldige ich die vierzehnstündige Verspätung, «... aber es ist nicht unsere Schuld...» Der Alte macht eine kleine Verbeugung. Und lächelt: «Das Leben ist immer ein Warten... die Geduld seine schönste Tugend!»
Ich weiss nicht, ob er das von einem syrischen Kalenderblatt hat. Aber es passt.
«DAS LEBEN IST IMMER EIN WARTEN...»

Montag, 12. Oktober 2009