Mit den Füssen voran

Ilses Atem ging schwer. Die alte Frau stützte sich auf ihren Rollator. Und schüttelte den Kopf: «Wieder alles umorganisiert... man findet nichts mehr... die denken auch keine Sekunde, dass dieses ständige Umspulen für alte Menschen Tortur bedeutet... TORTUR gross geschrieben!»
Sie schleppte sich zu einer beschürzten, jungen Frau, die Suppenbeutel ins Regal einfüllte: «... ich suche Salz. Früher war es doch...»
«... weiss nicht... bin Neues hier...»
Ilse knurrte. TYPISCH!! Sie war mit ihren 89 Jahren in einer Welt angekommen, wo alles «neu» für sie war. Als wäre sie wiedergeboren. Nur dass diejenigen, die sich um das Neugeborene kümmern sollten, alle weg waren. Und Ilse sich nun mithilfe dieses verdammten Rollators alleine durchs Leben schleppen musste.
Ihr Arzt hatte ihr ein Altersheim vorgeschlagen: «Sie haben es dort... saugemütlich!»
SAUGEMÜTLICH? ja, genau dieses Wort hatte er in den Mund genommen. SAUGEMÜTLICH? dabei wusste jeder, dass sich die Alten von den Balkonen stürzten, um diesem «Saugemütlichen» einen klaren Schlusspunkt zu setzen.
Nein. Sie kam zu Hause zwar mehr schlecht als recht zurande. Ihre Nachbarin schaute einmal am Tag, ob sie noch lebte. Und machte ihr die grosse Wäsche.
(Ilse zückte ihr Notizblöcklein, in das sie seit einigen Jahren alles sorgfältig notierte, um nichts zu vergessen:
«FRAU BLOCH 1 FLASCHE BURGUNDER UND 50 FRANKEN ZU WEIHNACHTEN!»)
Nein. Die Welt brachte sie nur «mit den Füssen voran» (wie ihr Mann zu sagen pflegte), aus ihrer Wohnung. Egon war dann allerdings von einem Laster auf dem Moped überkarrt worden. Da war nichts mit «Füssen voran» gewesen...
Ilse machte sich wieder auf die Suche nach dem Salz. Ein junger Mann, Augen wie Eierkohlen und die Haare auf Stoppeln gestutzt, schaute sie an: «Kann ich Ihnen helfen...?»
Eine Stunde später sassen sie im kleinen Café des Supercenters. Und Ali erzählte ihr, dass er Krankenpfleger gelernt habe. Und Arbeit suche.
Er machte ihr den Vorschlag, einmal im Tag nach ihr zu schauen, Besorgungen zu machen... solange, bis er wieder einen festen Job habe.
So ging Ilse mit einem Paket Salz und einem türkischen Pfleger heim.
Freunde und Verwandte waren dann nur noch ein Ausrufezeichen. Ihre Tochter Rosa, die sich einmal jährlich (zu Weihnachten) mit einem Telefonanruf aus den Staaten meldete, hörte sich alarmiert an: «Der nimmt dich doch aus, Mammi (Ausrufezeichen!) Pass auf. Man kennt ja diese Araber... (nochmals Ausrufezeichen).»
«Er ist wunderbar. Und er liest mir am Sonntag immer vor...», schwärmte Ilse. Und überdies mache ich Übungen mit ihm? zur Stärkung der Muskeln!»
«Oh Gott!», tönte es aus Übersee.
«Oh Gott», sagte auch Frau Bloch. Und gab den Schlüssel zur Nachbarswohnung mit der spitzen Bemerkung zurück: «Man muss ja nun nicht mehr schauen, ob sie kalt daliegen? Herr Ali sorgt schon für das Heisse!»
Nach anderthalb Jahren fand Ali eine Pflegerstelle in einem Altersheim. «Geh nur», lächelte Ilse, «du hast mir die schönste Zeit in meinem neuen, alten Leben geschenkt! Dafür bin ich dir dankbar...»
Er umarmte sie. Und versprach ihr, stets an seinen Freitagen vorzulesen.
Zwei Stunden später ging sie auf den Balkon. Und in ein anderes Leben... mit den Füssen voran, wie Egon zu sagen pflegte...

Montag, 28. November 2011