Königin der Wilis

Luggi Schneider schüttelte unwillig den Kopf: «Den Rücken gerade halten, Mia!»
F r ä u l e i n Schneider, wie sie von allen genannt wurde (und wehe, einer hätte sie als «Frau Schneider» apostrophiert)? Luggi Schneider korrigierte die 5. Position der kleinen Ballett-Elevin: «?und nimm gefälligst diesen grässlichen Kaugummi aus dem Mund?BALLETT IST DIZIPLIN. UND DU WILLST DOCH EINE ERSTKLASSIGE BALLERINA WERDEN? SO WIE ICH ES EINMAL WAR, MIA??»
«Zzzz»? vernahm man ein Geräusch aus der hinteren Ecke. «Ein einziges Mal hast du die Wilis getanzt, Luggi?und dann ab in die Versenkung!» Luggi warf ihrer älteren Schwester einen giftigen Blick zu.
Anna-Doria schob sich ein drittes Stück vom Kuchen mit dem verschnörkelten Zuckerguss zwischen die schaukelnden Zahnreihen: «Du lebtest immer in deiner Fantasiewelt, Luggi!» Die oberen Zähne fielen langsam auf den Guss? ähnlich wie Luggis letzter Vorhang.
Anna-Doria saugte sich die porzellan-weisse Reihe geräuschvoll wieder fest: «?ich finde, Mia macht das sehr gut!»
«GUT IST FÜR DIE BÜHNE NICHT GUT GENUG!», dozierte Fräulein Schneider.
Tanzen war immer ihre Welt gewesen. Sechsmal in der Woche hatte sie hart trainiert. Sie erklomm die üblichen Stufen: Kinderballett?Corps de Ballet?dann das erste kleine Solo. Und schliesslich Ersatzbesetzung der Königin der Wilis in Gisèle?
Wochenlang hatte sie sich mit dieser gespenstischen Rolle auseinandergesetzt. Vor dem Spiegel probte sie die Mimik, mit der sie aus dem Grab aufsteigen würde (das Theater stellte die Wilis auf einen Lift? schon surrten die um Mitternacht über die Gräber).
Der Choreograf verlangte, dass die Königin mit dem Oberkörper nach hinten geneigt in einer langen Diagonale über die Bühne schweben solle?Luggi war eine Meisterin der Diagonale. Deshalb hatte man sie auch als Ersatz für die grosse Albus ausgesucht.
An jenem glücklichen Abend, als die erste Besetzung unpässlich war, wurde das weisse, wallende Tüllkleid rasch umgeändert (die Albus war bedeutend kleiner)? und auf die Grösse von Luggi (die sich jetzt Lucia Taylor nannte) verlängert. Da alles hastig vor sich ging, wurde der Rock etwas zu lang. Und als Luggi (Lucia Taylor) mit den Trippelspitzenschritten schon fast die grosse Diagonale geschafft hatte, verhedderte sie sich im Tüll. Und knallte wie ein abgeschossenes Reh auf den Bühnenboden.
Da und dort hörte man ein unterdrücktes Kichern. Dann fiel der Vorhang. Der Rest des Abends wurde von der dritten Besetzung bestritten. Grottenschlecht.
Luggi erholte sich von dem Sturz. Aber nie mehr von dem Gekicher im Publikum.
Anna-Doria anerbot der Schwester einen Job in ihrem Buchladen (Esoterik)? aber «Fräulein Schneider» eröffnete eine Ballettschule. Und trimmte junge Mädchen auf Wilis komm raus!
«Streck deinen Spahn, Mia?», fauchte Luggi nun die Tänzerin an. «Du machst einen Fuss wie ein Elefant?»
Es war der Moment, als die junge Mia den Kaugummi an den grossen Spiegel klebte. Sie sammelte ihre Trainingssachen ein: «Das wars. Ich mache lieber Jazz-Ballett, Frau Schneider?»
«F r ä u l e i n Schneider», tönte es eisig. Und dann zu Anna-Doria: «Diese jungen Leute von heute? keine Haltung. Kein Biss!»
«Der Zuckerguss war steinalt!», meckerte Anna-Doria aus der hinteren Ecke.

Montag, 7. Oktober 2013