Kinderbesuch

Lillis Emotionen fuhren Achterbahn.
Erstmals kamen Nichte und Neffe zu Besuch.
Nadine war 7. Paddy 9.
GROSSES FRAGEZEICHEN: WIE VERBRINGE ICH MIT DEN KINDERN VIER STUNDEN, SODASS SIE ÜBERALL HERUMERZÄHLEN: «TANTE LILLI IST ECHT COOOL.»?
Natürlich hatte Lilli Kinder-Erfahrungen. Allerdings nur theoretisch.
Lilli stand kurz vor dem Master mit der Abschluss-Studie: «Wie einschneidend sind Killerszenen im Fernsehkrimi beim durchschnittlichen Gemüts­leben von Zehnjährigen?»
Monatelang hatte sie sich durch solche Fallstudien durchgearbeitet. Einziger Ruhetag: Sonntag. Der war für «Tatort» reserviert. «Tatort» war ihr heilig. Besonders die Filme mit der kleinen Frau Alberich und dem bissigen Professor.
Es gab kaum etwas, was sie theoretisch nicht über Zehnjährige wusste.
Barbiepuppen waren out? oder höchstens noch bei stark pigmentierten Migrantenkindern aktuell.
Bei Videospielen bevorzugten die Mädchen «Killer-Kalle». Und die Buben «Das Geheimnis der Gräfin O» ?
Sie googelte lange. Und fand heraus, dass es sich bei «Killer-Kalle» um eine durchgeknallte Mörderkatze und bei «Gräfin O» um den Busenstar Dolly Buster handelt.
WIE GESAGT? GROSSES FRAGEZEICHEN!
Sie rief ihre Schwester Babsi an. Babsi hatte nie studiert? aber Praxis mit Kindern. Sie war, was heute fast als Schimpfwort galt: Hausfrau und Mutter. Fall­studien gabs in ihrem Leben keine. Nur Pampers. Und Kindergeburtstage.
Babsi hatte schon als kleines Mädchen am Kinderherdchen Brei gekocht. Und die Puppenwäsche mit Persil gewaschen.
Lilli war anders: Ihr Interesse galt mehr dem Gefühlsleben der Weinbergschnecken. Und der Frage: «Weshalb gab es Teddybären? Und keine Teddybärinnen? Waren Teddys schwul?»
Gottlob war Babsi zu Hause? na gut. Wo hätte sie auch sonst sein sollen.
«Liebes? Nadine und Paddy kommen heute Mittag zu mir!»
«Ach Lilli, das ist nett ?»
«Na ja, du kennst ihren Hintergrund: intellektuell. Mutter Xenia doziert chinesische Dramatik. Vater Phil forscht im Campus. Was kann ich solchen Kindern bieten?!»? «Geh zu McDonald?s ?»
Lilli stöhnte auf: «Babsi? INTELLEKTUELLER HINTERGRUND!? KAPIERST DU, WAS ICH MEINE?!»
«Ach so? ja dann spiel mit ihnen Monopoly ?»
Lilli tobte: «DAS IST DOCH SO EIN VERDAMMTES KAPITALISTENSPIEL? DIE ELTERN WÄHLEN ULTRALINKS!»
«Duu, Lilli», tönte es nun aus dem Hörer, «ich muss ? die Milch ?»
Sicherheitshalber kaufte Lilli die beiden Games von «Killer-Kalle» und «Gräfin O».
Die Kleinen waren dann wirklich «knuddel­goldig». Lilli strahlte sie an: «Und was wollen wir jetzt anstellen ??»
«Weihnachtsplätzchen backen», kreischten beide vergnügt.
WEIHNACHTSPLÄTZCHEN!?!
Ganz grosses Fragezeichen.
Sie holte im Supercenter 20 Pakete Fertigteig. Ein Dutzend Ausstechförmchen. Und Gummibärchen für zwischendurch ?
Spätabends rief Xenia bei Lilli an: «Ich weiss nicht, wie du das angestellt hast, mein Liebes ? aber sie finden dich megacool?»
Ein Knacken. Die kleine Nadine hatte sich von ihrer Mutter den Hörer geschnappt: «Dürfen wir nächstes Mal zu McDonald?s, Tante Lilli ??!»
Noch am selben Abend rief Lilli ihre Schwester an: «Babsilein? hast du noch irgendwo unser altes Monopoly-Spiel ??»

Montag, 9. Dezember 2013