Kein Bammel vor Hammel

Wir waren eine politische Familie.
Vater links von links.
Mutter rechts von rechts.
Unsere Mittagessen ähnelten häufig verbalen Tennismatches.
Das Kind hockte wie ein Schiedsrichter in der Mitte oben auf dem Kindersitzchen. Wenn es sich zum Wort melden wollte, wurde es gereizt unterbrochen. «Schweig? am Tisch redet man nicht.»
Aber wo war hier ein Tisch? Das war ein politisches Schlachtfeld.
Das Kind löffelte schweigend die Suppe aus.
«Geh doch nach Russland!», tobte Mutter. «Küss doch den Yankees den Arsch!»? jaulte Vater.
«Die Suppe hat schon wieder zu wenig Salz», maulte die Omi.
Sie fegte sich als Putzfrau durchs Leben. Und hatte nur eine politische Ansicht: «Morgen ist Sonntag? da ziehe ich mir die Haxen hoch und einen Stumpen rein!»
Heute hätte sie eine sozial abgesicherte Minimalrente. Aber bei jedem Stumpen das vorgeschriebene Drama: «RAUCHEN TÖTET!»
(Wenn ich mir so die Nachrichtensendungen anhöre, frage ich mich mitunter, weshalb da nicht nach jedem Bömblein, das irgendwo auf der Welt harmlose Menschen zerfetzt auch der Warnstreifen «POLITIK KILLT!» auf der TV-Scheibe aufleuchtet).
Als Vater sich eines Tages für die Sozialisten als Grossrat aufstellen liess, baute Mutter die Krise: «Soweit kommts noch? ein Mann auf dem Rathaussitz, der Sechsertram mit?x? schreibt!»
In den Augen meiner Mutter hatten Trämler ihre Schlitten und nicht das Volk zu führen?
«Kapitalisten-Zicke!», tobte Vater am Tisch.
«Roter Hund!»? die Mutter.
«Wo ist das Salz??», die Omi.
Damals hat das Kind zum ersten Mal von einem Diadem geträumt. Denn die Königin hat nichts zu sagen. Und ist trotzdem eine Wucht.
«Ich bin nur Listenfüller?», tat Vater seine politischen Ambitionen bei den Freunden bescheiden ab. «? aber ihr könnt den Schmid und den Müller streichen. Und mich darüber schreiben. Mann will ja irgendwie mit einem anständigen Resultat dastehen!»
Dann liess er für alle eine Runde Bier springen.
Mutter bezahlte eine Runde Schnaps, damit sie auf ihren Wahlzetteln Müller und Schmid stehen liessen.
Immerhin? als es dann ums Ganze ging und Vater mit einem Kinderwagen voller Wahlpropaganda durchs Quartier jagte, half auch sie mit die Briefkästen mit «KEIN BAMMEL VOR HAMMEL!» zu verstopfen: «Es soll nie jemand sagen können, ich hätte meinem Mann nicht auch in schlechten Zeiten beigestanden. Und das sind schlechte Zeiten? zumindest für mich!»
Ihren Freundinnen erklärte sie entschuldigend: «Vielleicht kriege ich ihn so nach Moskau los?»
Als Vater gewählt wurde, strahlte er. «Das Volk ist eben gescheiter, als man glaubt!»
Mutter sah es anders. «Das Volk ist dümmer als erlaubt!»
Und die Omi nahm den Sieg ihres Sohnes pragmatisch: «Vielleicht können wir uns jetzt etwas mehr Salz in der Suppe leisten!»
Bis zur letzten Stunde war unser Mittagstisch ein Tennisfeld. Allerdings änderten sich die Ansichten mit der Zeit? es fand so etwas wie ein Seitenwechsel statt.
Vater hatte im Laufe der Jahre Mutter in den meisten Ansichten rechts überholt? sie wiederum liebäugelte mit einer revolutionären Liga.
Das Kind aber wurde grösser. Schwieg weiter. Und beobachtete nur.
Es sah, wie Mutters kapitalistische Idole von einst die Schweizer Banken zum Beben brachten.
Und es sah die Russen in den 5-Sterne-Hotels von Cannes den Kaviar mit Löffeln essen.
Politik verändert sich? verändert aber nicht viel.
Oder, wie die Omi? Gott hab sie selig? sagen würde: «Es fehlt einfach das Salz in der Suppe!»

Montag, 8. September 2008