Katastrophen

Georgette war eine echte Nervensäge. Schlimmer. Sie war wie ein Dauernieselregen: penetrant. Und rundum schlechte Laune verbreitend.
Georgette hatte nicht viel Interessantes: Pfannkuchengesicht. Krampfadern, die wie anthrazithfarbige Kabelstränge von den dünnen Beinen abstanden. Und dann noch Mundgeruch.
PENETRANT. Gut. Dafür konnte sie nichts. Sie hatte das, was die Mediziner eine offene Abdeckung nennen. Aus dem Mund, der schmallippig war, strömte nur Negatives. Begegnete man Georgette im Hausgang, grüsste sie mit der Bemerkung:
«Habt ihrs schon gehört?? Der Buser von nebenan ist unter ein Auto gekommen» AUSRUFEZEICHEN (!). «Dabei war er erst 64. Und die Heckscheibe ist auch kaputt...» ZWEI AUSRUFEZEICHEN (!!).
In letzter Zeit muss ich viel an Georgette denken. Die Zeitungen, die Nachrichtensprecher, die Wetterfrösche im Fernsehen? alle haben Georgettes Rolle übernommen.
Gut. Es fehlen die Krampfadern und was mit dem Mundgeruch ist, weiss ich nicht? aber die Nachrichten, welche wir täglich mehrmals und auf verschiedensten Tabletts serviert bekommen, sind nur noch bitter. Und mit dem Kräutlein SENSATION!!! SENSATION!!! und DREI AUSRUFEZEICHEN (3 !!!) gewürzt.
Die Georgettes von heute schleppen bereits zum Frühstücks-Espresso 300 Tote an. Dann streichen sie mit der Butter vier Explosionen und drei Selbstmordattentäter auf unser Zopfbrot. Als nächster Adrenalinstoss werden die Börsenkurse hinterhergeschickt.
Und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass den Kommentatoren schier einer abgeht, wenn sie uns bebend vor Weltuntergangsahnung und sensationstrunken ein Minus von 0,5 Prozent durchgeben können. Mit ihrem «Wer weiss, was morgen dann kommt?»-Blick schlagen sie uns auf den Magen. Da kommt dann auch mit Rex Gildos «Fiesta, Fiesta Mexicana» keine Stimmung mehr auf...
Ich weiss nicht, weshalb die Medien Georgettes Mieselnieselregen übernommen haben. Viele meiner Kollegen behaupten, die Leute seien eben auf solche Sensationen scharf. Ein Radio-Freund hat mich vorwurfsvoll angeschaut. «Ja, was willst du denn?? Es ist unsere vornehme Aufgabe, zu berichten. Und wir können aus einer schlechten Welt keine gute Welt machen... Wir können doch nicht das Grauenvolle verschweigen, nur weil dein Seelchen nach Zuckerwatte lechzt...»
Wo er recht hat, hat er recht.
ABER WESHALB HAT GEORGETTE DAS SCHÖNE IN UNSERER STRASSE NIE GESEHEN?
Es gab doch diesen herrlichen Fliederbaum auf der Anlage. Es gab diesen lustigen Hinterhof-Circus mit der dressierten, weissen Ratte der Schmid-Kinder. Darüber schwieg Georgette penetrant.
Es war für sie einfach nicht interessant genug. Denn sie wollte die Menschen fesseln. Und da sind Katastrophen die besten Stricke...
Mit den Medien ist es heute ähnlich? je geiler die Sensation, umso höher die Auflage. Sie verbreiten zuerst den Horror um diese saumässige Schweinegrippe. Dann interviewen sie eine Zürcher Fachfrau, die uns beschwört, nach jedem Händedruck die Finger zu waschen oder am besten grusslos durchs bedrohte Leben zu gehen.
Ich erfahre, dass die Banken zwar wieder Gewinne machen, ABER DER NÄCHSTE PROZESS WARTET SCHON.
Schliesslich hören wir die nächste Hiobsmeldung: Hörer, Zuschauer und Leser sterben weg. Schon wieder ist das Zürcher Monopolfernsehen von den Quoten gefallen. Und drei weitere Zeitungen müssen sich zu einem Blatt zusammenschliessen...
Ach ja? Bei Georgette war es ähnlich.
Wenn sie den Hausgang betrat, schlugen auf allen Stockwerken sofort die Türen zu.
Da stand sie ganz alleine da. Nur der Mundgeruch hatte sie nicht verlassen...

Montag, 3. August 2009