Jorge (nach einer honduranischen Geschichte)

Er sass am Fluss. Und angelte. Schon als Kind hatte er am Fusse des Pico Bonito gesessen. Und im Cuero geangelt. Damals mit seinem Vater. Nie hatte einer ein Wort gesprochen. Aber sie waren zufrieden. Brachten abends die Fische heim. Oder tauschten sie gegen Mais. Und Ananas.
ES WAR IHR LEBEN.
Ein Mann störte Jorge in seinen Träumen. Der Traum war ein Skooter? der Mann ein Entwicklungshelfer.
Pausenlos redete dieser auf ihn ein.
Störte die Fische. Und Jorge. «Wenn du den Fang auf dem Markt verkaufst, machst du Geld...», sagte der Entwicklungshelfer. Am anderen Tag ging Jorge mit den Fischen zum Markt. Und kam mit ein paar Lempiras nach Hause.
«WAS SOLL ICH DAMIT?», fauchte ihn seine Frau an. «GELD KANN MAN NICHT BRATEN...»
Der Entwicklungshelfer überzeugte Jorge, dass er mehr Geld verdienen könne, wenn er sich mit anderen Anglern zusammentäte. Und er den Fang in der Markthalle der nächsten grösseren Stadt anbieten würde.
Jorge dachte an den Skooter. Und besprach sich mit seinen Freunden. Alle träumten von dem Skooter. Und so brachten sie ihre Fänge in die Markthalle der nächsten Stadt.
Nun aber tauchte ein Heer von Entwicklungshelfern auf und predigte, dass es mehr Sinn mache, wenn Jorge seine Fische ohne Zwischenhandel an einem eigenen Fischtisch anbieten würde.
Also hatte er bald einen Stand? und wieder Besuch von den Männern, die das Drittweltland und Jorge entwickeln wollten: «Wenn du Leute anstellst, könntest du die Fische verarbeiten.
In Dosen verpacken. Und eine kleine Fabrik eröffnen...»
Obwohl Jorge schon etwas Geld für den Skooter zusammenhatte, investierte er nun alles in ein baufälliges Gebäude und 20 Arbeiter. Er eröffnete eine kleine Fischfabrik. Und seine Frau war stinksauer: Denn Fische gabs zu Hause schon lange keine mehr. Die kamen alle direkt in die Fabrik.
Die Entwicklungshelfer aber stiessen im lokalen Hotel auf ihr gelungenes Projekt an. Sie verwendeten es bei Spendenaufrufen als Musterbeispiel ihres unermüdlichen Einsatzes, die Dritte Welt zu verbessern. Und zogen weiter zu José, der einen Garten mit drei Ölpalmen hatte.
DEN REST KANN MAN SICH DENKEN.
Bald einmal besass Jorge in den Nachbarorten Fabriken, wo Arbeiter Fische filetierten. Und sie in Dosen füllten. Er hatte jetzt auch einen Skooter.
Nun malochte er Tag und Nacht, um sich einen neuen Traum zu erfüllen? der Traum war eine amerikanische Limousine, schwarz und glänzend, wie er sie aus den Fernsehfilmen kannte. Überdies schickte er seinen Sohn auf die einzige Universität des Landes. Und sah ihn nur noch selten.
«Er soll es einmal besser haben als wir», sagte er seiner Frau. Diese schüttelte unwillig den Kopf: «Man kann am Tag nur zwei Fische essen...»
Jorge schalt sie ein «undankbares Weib». Und nahm sich eine junge Freundin.
Als er 60 Jahre alt wurde, beschloss er, die Nacht durchzuarbeiten, um an seinem Geburtstag genügend Freizeit zu haben. Er wollte wieder einmal zum Angeln gehen. Erstmals.
Nach 35 Jahren.
Jorge sass am Fluss.
ALLEINE.
Seine Freundin war jetzt die Gattin des Palmölfabrikanten.
Sein Sohn lebte als Arzt in Miami. Die Mutter hatte dieser zu sich genommen.
Jorge schaute auf das bräunliche Wasser, das träge vorbeizog. Er trauerte um all die Zeit, die er nicht mehr hatte...

Montag, 13. Februar 2012