Irma und die «4»

Irma sass in der Küche.
Sie sass immer in der Küche. Das Haus zählte 23 Zimmer, fünf Bäder und einen Estrich voller Erinnerungen.
In der Küche hatte sie über ein halbes Jahrhundert verbracht. Auch jetzt ging ihr Blick mindestens einmal die Minute zum Kasten über der Spüle.
Die weisse Kiste hatte 9 Ziffern.
Klappte die «4» runter, wurde Irma ins Esszimmer gerufen. Bei der «3» hatte sie im «Dormoire» (wie das Fräulein es nannte) beim Ankleiden zu helfen, «5» war der grosse Salon, «6» der Keller, «8» das private Bad.
In den letzten Jahren waren die Klappen lahm geworden. Nur noch die «4» hatte funktioniert. Fräulein Rüttimeyer bediente den Klingelknopf unter dem Tisch. Im Takt fiel die «4» mit einem knurrenden «drrrr» und leisem «dlagg».
Also: SUPPE!. Dann? «drrr!»? ABRÄUMEN. Schliesslich («dlagg!») TEIGWARENAUFLAUF!... Und? «drrr!» ABRÄUMEN. Endlich: «drrr!»? KAFFEE. In der geerbten Silberkanne des Vetters. Und («drrrr!dlaggg!»): ALLES WEGRÄUMEN. Zimmerstunde.
Selbst die Zimmerstunde verbrachte Irma in der Küche. Sie las Agatha Christie.
«Du und deine Morde!» hatte Fräulein Rüttimeyer stets etwas spöttisch den Kopf geschüttelt. Irma errötete schuldbewusst. Als hätte sie die Opfer selber umgelegt.
Sie war als 15-jähriges Mädchen aus dem Badischen in die Stellung gekommen. Zuerst als Küchenmädchen. Das Haus zählte damals noch drei Bedienstete.
In jener Zeit waren die Zahlen öfters gefallen. Das Fräulein gab Einladungen. Empfing Cousinen (die sie «Basen» nannte). Serviert wurde der legendäre «Schunggeauflauf»? ein Rezept, das die sparsame Köchin aus Schinkenresten und Teigwaren mit einem aufgeschäumten Ei zur Poesie werden liess. Später übernahm Irma das Rezept. Und die Arbeit der andern.
Es war an Allerheiligen gewesen, als Irma nach der Suppe auf die «4» wartete. Nach einer Stunde hatte das Fräulein noch immer nicht zum «ABRÄUMEN» geklingelt. Also klopfte Irma zaghaft an die Esszimmertüre. Keine Antwort. Fräulein Rüttimeyers Kopf lag in der Suppe? die kleinen Augen blickten erstaunt zum Kristalllüster.
Irma erbte das Haus.
Als Fräulein Rüttimeyer auf dem Wolfsfriedhof beerdigt war, ging die Dienstmagd nach Hause. Setzte sich ins Esszimmer. Und klingelte. Aber da kam keiner. Sie erhob sich seufzend. Und löffelte die Suppe in der Küche aus. Wie immer.
Stets an ihrem Geburtstag lud Irma ihre Freundin Louise (sie führte den Haushalt eines ledigen Bankiers) zu einem Nachtessen ins Haus. Irma deckte den Tisch für eine Person? es gab Suppe... Schinkenauflauf... Kaffee aus dem Silberkännchen des Vetters.
«Willst du das wirklich...?», fragte Louise jedes Mal. Irma tätschelte den Arm der Freundin: «Es macht mich glücklich...»
Louise sass im Esszimmer. Irma in der Küche. Sie wartete ungeduldig darauf, dass die Freundin die Klingel drückte. Und? «drrr-dlagg!»? die «4» fiel. Dann servierte Irma die Suppe.
Als sie starb, ging das Haus an den Staat. Man baute es zu Büros um.
«Was ist Kiste?», fragte der Arbeiter, der die Küche weghämmerte, um Platz für einen Computer-raum zu schaffen. Keiner wusste es.
Also fiel der Kasten krachend in die grosse Abfallmulde. Und? «drrr-dlagg!»? machte die «4».
Dann wurde alles abserviert.
Zum letzten Mal.

Montag, 3. Oktober 2011