Hildis Kuh

Es war Liebe auf den ersten Augenblick.
Wörtlich.
Denn Hildi schaute in Augen mit diesem verzauberten Blick, den Geschichtsprofessoren auch Pallas Athene nachsagen.
Dann streichelten ihre Hände zärtlich die winzigen, blonden Löckchen.
Hans stand unwillig daneben: «Jetzt komm schon, Hildi!»
«Nein, Hans!»
«HILDI!»
Seine Ehegattin wurde zu Granit. Und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war da nicht nur Beton.
«ICH WERDE NICHT ZULASSEN, DASS AUS DIESEM SCHÖNEN WESEN EIN KOTELETT-HAUFEN WIRD, HANS!»
Das Kälbchen war nämlich auf dem Weg zum Metzger. Und dort war es auch, als Hildi ihm begegnete.
«Wir haben schon einen Hund, einen Papagei und drei Neonfische», jammerte Hans. «Das da wird mal eine ausgewachsene Kuh. Kannst du mir sagen, wo die in einer Dreizimmerwohnung grasen soll?»
Hildi schaute ihren Mann anzüglich an: «Wo ein Ochse herumstänkern kann, hats auch Platz für eine Kuh, Hans!» Dann wandte sie sich an den Bauern, der das Kälbchen am Strick führte: «Ein schönes Tier?»
«Moulmoul?»
Es stellte sich heraus, dass der Bauer Albert hiess. Und keinem Konversationspreis nachjagte. «Moulmoul», war alles, was seinen Wortschatz ausmachte.
«Ich bezahle das Kalb. Sie ziehen es auf. Wenn ich hier in die Ferien komme, trinke ich seine Milch. Und bezahle dafür das Futter?»
«Moulmoul?»
Lara, wie Hildi das gerettete Kalb nannte, wuchs zu einer wunderschönen Kuh heran. Die Augen waren jetzt noch ausdrucksvoller.
Da Hans und Hildi pensioniert waren, fuhren sie öfters in den Bergort. Kaum sichtete Lara ihre Gönnerin am Weidenhag, gab sie ein beglücktes Muhen von sich. Und galoppierte zu Hildi. Diese hatte ihr gesalzene Brotschnitten mitgebracht. Gesalzene Brotschnitten waren für die Kuh wie Wasabi-Nüsschen für Hans: unwiderstehlich.
«Sie sieht gut aus», nickte Hildi zufrieden. Und schob dem Bauer ein paar Scheine für Laras Futter zu, «eine Prachtskuh!»
«Ganz die Mamma», konnte es sich Hans nicht verkneifen.
Und «Moulmoul?» brummte Albert.
Lara mampfte die Brote. Leckte dankbar Hildis Hand. Und: «Ich hole in einer Stunde die Milch ab?», sagte diese.
«Moulmoul», sagte Albert.
Die rohe Milch von Lara war anders als alles, was man von Supermarktregalen eingetütet oder abgeflascht kaufen konnte. Es war fast schon Rahm. Dicklich. Und mit einem feinen Aroma nach Männertreu, frischem Gras und Morgentau.
Hildi leckte sich die weissen Lippen: «Was sagst du jetzt, Hans? Die Leute wissen doch gar nicht mehr, was richtige Milch ist?»
«Moulmoul?», grinste nun Hans.
Drei Jahre später kam Hans alleine zur Weide. Er trug eine schwarze Krawatte. Seine Augen tränten, als er am Zaun stand.
Albert trat neben ihn. Und gab Hans stumm die Hand.
Als Lara die beiden am Zaun stehen sah, muhte sie aufgeregt. Galoppierte zu ihnen. Und ihre schönen Augen äugten herum.
Vergeblich.
Hans streckte der Kuh eine gesalzene Brotschnitte zu. Doch Lara drehte den Kopf. Sie brüllte laut klagend? ein markerschütternder Laut von Trauer und Verzweiflung.
Ihre Augen schauten zu Hans. Der stand mit der Salzschnitte da. Und weinte.
«Es isch e dunners gueti Frou gsi!», sagte Albert.
Es war der längste Satz seines Lebens.

Montag, 22. Juli 2013