Hausieren verboten

Es war ein Emailleschild. Oval. Weiss. Mit rabenschwarzen Buchstaben:
BETTELN UND HAUSIEREN VERBOTEN.
Die Toblers in unserer Strasse hatten es an die Haustüre geschraubt. Das blankgeputzte Emaille zeigte deutlich: HIER NICHT!
Bei UNS aber durften sie. Denn Mutter fand solche Schilder «unchristlich». Das sprach sich unter Bettlern und Hausierern bald einmal herum. Und so besass unsere Familie Berge von Streichholzschachteln. Tonnen von Druckknöpfen. Und ein Arsenal an Rasierklingen, mit dem wir spielend alle Herrenfriseure der Stadt für mindestens 20 Jahre damit hätten ausrüsten können.
Wenn ich von der Schule nach Hause kam, sass nicht selten ein etwas dürftig gekleideter Herr am Tisch. Immer ein anderer. Aber immer mit demselben Blick: eine Mischung von Leiden Christi und hungerndem Hund. «Vergelts Gott, liebe Frau!», sagte der Mann dann, als er die Suppe geschöpft bekam.
Vater steckte ihnen meistens noch einen Halbfränkler zu. «Für einen Schnaps, du alte Kanaille!»
Da erlosch das Leiden Christi. Und machte Platz für ein strahlendes Halleluja-Lächeln.
Es wurde uns eingetrichtert, dass Betteln zwar etwas Unschönes sei, aber Bettler auch Menschen wären. Im Übrigen würde die Bibel lehren, von unserm Überfluss abzugeben. Und alles Hab wie Gut zu teilen.
MIR WAR NEU, DASS WIR ÜBERFLUSS HATTEN. Vielmehr war da doch immer Gezeter und Lamento, das Haushaltungsgeld würde nirgends hinreichen. WESHALB DANN DIESER EXZESS MIT RASIERKLINGEN!?
«Ich kann einfach nicht anders», hat Mutter einmal in einer Strickrunde erklärt. «Irgendwie schäme ich mich für die Bettler und Hausierer. Ich schäme mich, dass sie so etwas überhaupt machen müssen. Und da kaufe ich mich halt los.»
Heute sind Verbotsschilder, was Betteln und Hausieren betrifft, von den Haustüren in unserer Strasse verschwunden. Sie sind von Rauchverbotstafeln und «ACHTUNG BISSIGER HUND» verdrängt worden.
Es ist nun aber nicht so, dass Hausierer ausgestorben wären. Bettler auch nicht. Nur die Begriffe haben sich geändert. Statt mit Rasierklingen handeln die Hausierer jetzt mit Geigentönen, Gesang oder von der Gitarre Gezupftem. Sie gehen nicht mehr von Haus zu Haus, sondern sie musizieren von Platz zu Platz. Und unsere Ohren sind so voll vom tönenden Angebot wie damals die Regale mit den Rasierklingen.
Die Bettler aber sind jetzt stumme Statuen in der Fussgängerzone. Sie stehen regungslos da. Und bewegen sich erst, wenn man ihnen einen Franken in den Teller wirft. Keiner sagt: «Vergelts Gott». Höchstens noch der Heilsarmeesoldat. Dafür machen sie nun theatralische Gesten. Und rüschen sich vor ihren Bettelauftritten auf wie die Tebaldi, wenn sie Tosca sang.
Weniger einfallsreiche Bettler klopfen ungeschminkt und direkt auf deine Schulter. «Hasst du mir mal einen Stutz für die Notschlafstelle?»
ICH WEISS NICHT, WAS DIE TOBLERS JETZT OHNE SCHILD MACHEN?!
Ich jedenfalls gebe. Familientradition. Auch wenns hinten und vorne nicht reicht? aber Nein sagen kann ich nicht. Ist mir irgendwie peinlich.
Und die heutige Bettelei hat ja auch einen Vorteil: Es ist eine neue Art von Kunstform. Und zu Hause liegen keine Rasierklingen herum.

Montag, 16. Mai 2011