Hallo im Tram

«Hallo? hallöchen!», lächelte die Blondine im Tram.
ICH HASSE ANMACHE.
Schon das Küsschen-Küsschen-Küsschen-Theater weckt den Brechreiz in mir. KANN MAN SICH DENN NICHT EINFACH ANSTÄNDIG DIE HAND GEBEN?
Nein. Du musst dich heute einem Duftcocktail verrückt gewordener Dreimal-wie-in-Frankreich-Schmatzern hingeben. Zuerst klebt eine Wolke von Esther Lauder an deiner linken Backe. Dann ein Hauch von übersäuertem Apéro-Cüpli auf der rechten. Und jetzt, wo der Duft des/der Küssenden dir auch noch frontal entgegenweht, jagt es dich schier von den Socken. JA, NOCH NIE ETWAS VON ATEMFRISCH-PASTILLEN GEHÖRT?
Zurück ins Tram.
Natürlich können die Weiber einen alten 68er nicht einfach in Ruhe seinen Tagträumen nachhängen lassen. Diese kreisen um ein Kaiserschmarren-Rezept. Und darum, ob es nicht besser wäre, die vier Eiweiss steif geschlagen unter die Eigelbmasse zu ziehen...
DOCH NEIN: «HALLÖCHEN!»?
«Was ist los?!», knurre ich wie ein Hund, den man vom Knochen wegholt.
Jetzt aber kann sich die Blondine kaum mehr einkriegen: «ICH BINS DOCH? DAS LORCHEN?!»
LORCHEN? Aber doch nicht etwa Lore Hummel von der 4a?
Als ich Lore das letzte Mal sah, hatte sie gestrickte Strumpfhosen an den Beinen. Überdies waren ihre Zähne das, was man gemeinhin «einen guten Vorsprung auf den Kuchen» nennt. Und bei den Bruchrechnungen erlitt sie Schiffbruch, bevor auch nur ein gemeinsamer Nenner gefunden werden konnte? sie war es auch, die einen Journalistenkollegen schon sehr früh zum Wort «hummeldumm» inspirierte.
Und jetzt dies: «HALLÖCHEN?!»
JA HALLO? da steht tatsächlich eine knapp 40-Jährige mit hautengen Jeans und Louis-Vuitton-Rucksäcklein vor mir. Ihre Zähne sind blütenweiss gekachelt und haben diese etwas langweilige Ebenmässigkeit eines Corps de Ballet bei «Schwanensee». Der Kopf hat eine unnatürliche Glätte wie die Gesichter jener Bankräuber, die ihre Wangen mit Strümpfen hochziehen. Und das Lächeln ist eingefroren wie die Fischstäbchen bei Coop.
«DU SIEHST UMWERFEND AUS», lüge ich.
«Danke. Du auch», lügt sie zurück.
Und dann bricht für einen Bruchteil wieder ihr schwacher IQ durch: «Man sieht uns beiden die 40 nicht an...»
Mathematisch ist Lore Hummel hummeldumm geblieben. Immerhin sind wir beide längst über 60? aber im Alter vergisst man eben schnell...
Nun plappert Lorchen munter drauflos und erzählt mir von ihrer strengen Trennkost, dem persönlichen Fitnesstrainer, dem sie ihre Arschbacken anvertraut. Von den täglichen Waldläufen in der Hard und davon, dass man alle Hunde erschiessen sollte. Schliesslich ihr Wort zur Weltlage: «Es gibt für alles eine Entschuldigung? nur für sein Altern nicht!»
Ich weiss nicht, was die Menschen mit ihrem Jugendlichkeitswahn haben. Nicht nur Lorchen, auch Max und Hans-August jagen seit der Rente mit verbissenen Mienen auf ihren Trimmgöppeln durch die Gegend. Stolz verkünden sei beim Saunahock: «Wir können es noch mit jedem Jungen aufnehmen!» Dann hüpfen sie ins Eiswasser und haben einen Schlaganfall.
Gut. Vermutlich ist es der Neid, der mich bei all diesem überalterten Jungvolk bissig werden lässt. Jedenfalls melde ich mich lautstark im Tram: «Ehrlich Lore: Dein IQ ist immer noch wie vor 68 Jahren? ich gratuliere!»
Dann klinke ich mich aus der Diskussion. Und beschliesse, für das Kaiserschmarren-Rezept doch die Eiweisse zu Schnee zu schlagen.

Montag, 27. September 2010