Tante Gertrude, eine weise Frau, die ihre Bemerkungen stets mit der Musik von klappernden Stricknadeln untermalte, nahm mich eines Tages zur Seite. Ich stresste zwischen Rom, der Insel und dem Elsass hin und her. Bei all der Hetzerei hatte ich mir wieder fünf Kilos mehr angefressen. Überdies rauchte ich wie ein Verbrennungskamin.
Die Tante legte ihre Strickerei also hin, was sie ganz selten tat. Höchstens beim Tatort, wenn die Kommissarin den Mörder überführte. Oder bei der Millionen-Frage in diesem Quiz, dessen richtige Antworten sie stets vor dem Gongschlag zum dlagg-dlagg-dlagg der Nadeln dem Kandidaten zuflüsterte. Tante Gertrude schob also ihre Brille hoch, legte die Socke mit dem Zopfmuster in den Schoss und schaute mich ernst an: «Kind!» (Sie nannte mich Kind, obwohl ich längst mehr als ein halbes Jahrhundert alt war und über 160 Pfund auf die Knochen brachte) - «Kind, lass dich von der Zeit nicht so auffressen. Nimm sie als Geschenk in dir auf. Sie ist teurer als Gold und Geld. Denn am Schluss hängt immer die Frage im Raum: Was habe ich mit meiner Zeit angefangen?»
Ich habe der Tante übers Haar gestrichen. Und sie hat die Brille wieder aufgesetzt und - dlagg-dlagg-dlagg - tanzten die Nadeln.
Der Tag hat heute noch immer 24 Stunden. Aber diese Stunden rinnen schneller durch die Finger als früher. Selbst Kinder behaupten: «Alles geht schneller» - in einem Alter, wo uns einst die Stunde ellenlang und träge wie eine dahinkriechende Schnecke vorkam.
Die Zeit hat die Zeit verändert. Wir leben heute mit tausenden Nachrichten, Milliarden von ADSL-Anschlüssen und Millionen Super-Center-Aktionen. Alles ist super. Superschnell. Selbst Supermänner fliegen schneller als die Sekunden. Und wir fliegen auf die Superzeit rein.
Vorgestern nun kam mein Freund Innocent nach Hause: «Denk dran - wir bekommen in dieser Nacht eine Stunde geschenkt.»
Eigentlich ist es das Allerschönste, Zeit geschenkt zu bekommen - in einer Zeit, wo keiner mehr Zeit hat. Nicht für sich selber. Und kaum für den andern.
Wieviele wichtige Stunden haben wir in unserm Leben verpasst. Sie sind an uns vorbeigeflogen - und wir haben sie nicht gehalten.
Nun schenkt uns das Leben eine Stunde - und ich überlege mir, wie ich sie sinnvoll einsetzen könnte, wenn sich das Rad noch einmal zurückdrehen liesse.
Ich würde beispielshalber meine Grossmutter im Altersheim besuchen. Sie hat sich jedes Mal gefreut - aber ich habe mir viel zu wenig Stunden für sie genommen. Heute tut mir diese verpasste Zeit leid.
Da war mein Vater, der mich anrief: «Wir könnten doch heute Nachmittag zusammen in den Elsässer Garten fahren - du musst mir sagen, wie du die Bäume geschnitten haben willst...»
«Machs, wie du es für gut hältst», habe ich geantwortet, «ich bin im Druck - ein anderes Mal komme ich gerne...»
Es gab kein anderes Mal mehr. Und ich denke wehmütig an die verpasste Stunde.
Ich denke auch an meine Mutter, die mich kurz vor ihrem Tod anrief: «Komm zum Kaffee - ich muss etwas mit dir besprechen...»
Wieder hetzten mich tausend Nichtigkeiten: «Ich kann jetzt nicht...»
Ich konnte nie mehr.
Und immer überlege ich mir, was sie mir wohl sagen wollte.
Ich hocke in meinem Stuhl. Und denke über verpasste Stunden nach - in einer geschenkten Stunde.