Anna Tozzi lächelte zufrieden.
Über 300 Gäste hatten ihr applaudiert, als sie die 70 Kerzen auf der Geburtstagstorte energisch ausblies.
«Wer hätte das je gedacht...», flüsterte die Jubilarin ihrer Tochter zu. Diese unterhielt sich eben mit dem Senator einer Rechtspartei über die halblegale Methode, Steuern zu umgehen.? «Ja Mamma», sagte sie etwas genervt wegen der Störung.
Anna Tozzi war Politik egal. Sie war Kalabresin. Und die Frauen aus diesem Teil des Stiefels haben seit Generationen Politik wie Schicksal selber in die Hände genommen. Minister waren wie Ehemänner. Sie taten alle wichtig, spielten Krieg mit Schiessgewehren? und wurden doch wie Marionetten an den Fäden der Frauen geführt.
Anna dachte 60 Jahre zurück. Ihre Mutter führte auf der Piazza Vittorio einen kleinen Gemüsestand; BOHNEN, STANGENSELLERIE? das Übliche halt.
«Die Zeiten ändern sich», lehrte die Mutter ihre kleine Anna, «aber gegessen wird immer!»
In den Sechzigerjahren blieben die ersten Hausfrauen aus. Das Bild der Mamma am Herd war auch in Italien vorbei. Die Frauen hatten andere Interessen als stundenlang Sugo zu kochen? ihre Selbstverwirklichung kostete Zeit. Und da kam Anna die Idee: «Mamma? WIR VERKAUFEN ZEIT. DAS IST BESSER ALS TOMATEN!»
Sie boten ihr Gemüse nun fixfertig gerüstet und die Bohnen gefädelt an. ALLES KOCHBEREIT. Die Hausfrauen hatten die Sachen nur noch nach ihrem Studium oder Karrierentag ins Wasser zu werfen... FERTIG!
Die Idee funktionierte. Bald führte die Familie zehn Stände in Rom mit «Fertiggemüse». Mit dem Erbe eines Grossonkels startete Anna eine Kleinfabrikation, die das gerüstete Gemüse auch in die Kühlregale der boomenden Supermercati lieferte. Jahre später verkaufte sie diese Idee in die ganze Welt? auch an die Schweizer Schwestern Betty und Bossi, die sich (zu ihrem Erstaunen) als zwei Männer entpuppten.
Als 63-Jährige wurde sie von «LA STAMPA» zur «UNTERNEHMERIN DES JAHRES» ausgerufen. Mit 70 zählte sie zu den berühmtesten Frauen des Landes? dies, obwohl sie mit dessen Ministerpräsidenten nie Bunga Bunga getanzt hatte.
Es war Nina, ihre Lieblingsenkelin, die Anna am Ehrentisch aufsuchte, ihr einen liebevollen Kuss gab und flüsterte: «Nonna, ich möchte mit dir reden...» Das Kind erklärte ihr seine Idee: «Die Leute haben alle dieses Rüstgemüse in den vergasten Klarsichtpackungen satt. Sie wollen keine Supermercati mehr. Sie wollen die alten Gemüsestände, wo sie die Äpfel schmecken und den Kohl fühlen können. Sie suchen ihre Gemüse aus? und alle die gestrandeten armen Teufel, die zu uns kommen und keine Arbeit finden, könnten sich beim Rüsten nützlich machen...»
So kam es, dass der verwaiste Markt bei der Piazza Vittorio in Rom neu zu Ehren kam. Zwar nur in einer Halle. Aber mit Dutzenden von Gemüseständen, wo heute Chinesen, Inder, Senegalesen das wunderbare Angebot einer globalen Welt feilhalten? alles fixfertig geputzt. Nach der Idee von Anna und Nina.
Anna Tozzi starb mit 71 Jahren während einer Kreuzfahrt. Auf der frisch gebauten Marmorgruft liest man die Inschrift: «Anna Tozzi? GEGESSEN WIRD IMMER!»
(Enkelin Nina wurde drei Jahre nach dem Tod der Grossmutter von «TIME» MAGAZINE zur Unternehmerin des Jahres erkürt und vom römischen Bischof für ihr «GUTES WERK» auf die Stirn geküsst...)
Gegessen wird immer...
Montag, 10. Oktober 2011