Frühreife Mädchen

Lucie schrie auf: «Mamma! Mammmaaaaa!»
Aus der Küche hörte man Tassen, die schepperten.
Das 15-jährige Teeny-Girl mit den langen, blonden Haaren und dem Gesicht eines Weihnachtsengels schaute mit weit aufgerissenen Augen in den Spiegel. Dann brach es schluchzend über dem Waschbecken zusammen.
Erna zuckte zusammen. Dabei kannte sie die Ausbrüche ihrer Tochter. Lucie war in einem schwierigen Alter. Es schien ihr, als würden die Mädchen heute mit einem Formel-1-Schlitten durch die Jugend rasen.
Sicherheitshalber hatte Erna ihre Tochter zum Frauenarzt mitgenommen. Der hatte dem Mädchen die Pille verschrieben. «Junge Frau», hatte er geschleimt? das zu einem Mädchen von 15 Jahren!
Von einem Tag auf den andern (na ja? eigentlich: von einer Nacht auf die andere) wurde Ernas gemütliches Haus zu einer Bahnhofshalle. Junge Männer dampften fröhlich ein und aus.
Erst kürzlich war so ein spindeldünner Kerl vor Mitternacht splitternackt in der Küche am Eisschrank gestanden ? auf seiner Arschbacke hatte ein Piratenkopf gegrinst: «Hats hier nirgends Schweppes?», quengelte das Gesicht des Piratenarschs.
Erna redete ihrer Tochter zünftig ins Gewissen: «? diese Herrschaften sollen sich gefälligst Shorts anziehen, wenn sie an meinem Eiskasten rum­fummeln? was siehst du nur an diesen tätowierten Skeletten?»
Lucie hatte sie ins Doppelkinn gezwickt:
«Ach Mammi? die Dünnen poppen am dicksten!»
Erna konnte gerade noch einen Betablocker einwerfen.
Jenen Morgen hatte sie nur mit Beruhigungstee und drei Löffeln Honig bewältigen können.
Es war einfach unfassbar: DIESE VERSAUTE UMGANGSSPRACHE, DIESE FRÜHREIFEN MÄDCHEN ? schon der Gedanke, sie hätte bei i h r e r Mutter das Wort «poppen» in den Mund genommen, liess Erna hyperventilieren.
«MAMMAAAA?!»
Erna zählte auf zehn. Und atmete tief durch. Dann machte sie sich auf den Weg zum Badezimmer. Vielleicht war sie bei ihrer Tochter etwas übervorsichtig. Aber Erna hatte Lucie als alleinerziehende Mutter erzogen. Der Vater war eine Fasnachts­bekanntschaft gewesen ? die Episode schnell wie ein Fünferruf. Aber er hatte eingeschlagen, der Fünferruf. Und Erna keine Sekunde gezögert, das Kind auf die Welt zu bringen ? auch wenn sie bei dessen Geburt bereits 41 Jahre alt war.
Noch einmal atmete Erna nun durch. Ihr Busen zitterte. In ihrem Kopf schlugen die wildesten Spekulationen Purzelbäume: «? würde Lucie das Kind wollen?? War die Matura für eine werdende Mutter gefährdet?? Okay, sie selber würde eben nur noch halbtags arbeiten, um für den Kleinen (natürlich wird es ein Bub!) da zu sein? und vielleicht sollte man den Fünferruf nun doch informieren. Wo er doch Opa würde und?»
Erna drückte das heulende Mädchen an sich. Sie wiegte es hin und her, so wie sie es früher in den Schlaf gewiegt hatte. Dann flüsterte sie: «Es wird alles werden, Lucie? nichts ist eine Katastrophe? deine Mamma ist für dich da?»
Lucie aber stiess sie wild von sich: «NICHTS WIRD WERDEN? DA SCHAU? AUF MEINEM NASENFLÜGEL? EIN ROTER PICKEL! UND DABEI HABE ICH MIT JOSé ABGEMACHT.»
Für einen Moment schaute Erna ihre Tochter sprachlos an. Dann lachte sie los, dass es sie schüttelte.
«Mammmmaaa ? DAS IST NICHT KOMISCH!»
«Nein, Lucie», gluckste Erna.
Und war froh, dass zumindest das Pickelproblem so wie früher geblieben war?

Montag, 29. Juli 2013