Annelies Sarasin war weiss wie ein Leichentuch.Sie schwankte. Und fast wäre sie gestürzt.
Begonnen hatte die Geschichte bei der Tramstation «Musik-Akademie».
«Annelugge», wie die betagte Dame aus dem vornehmen Basler Gellert-Quartier von ihren alten Mit-Baslern genannt wurde, schaute sich vergeblich nach einem Sitzplatz um. Eine Horde von Schulkindern hatte auf der Ausfahrt in die Hard auch den allerletzten Platz besetzt. Die drei dazugehörigen Lehrerinnen hockten ebenfalls. Und die 86-jährige Annelugge Sarasin schwankte in den Tramkurven wie die Pappeln im Sturm.
Schliesslich erhob sich eine schwarze, junge Frau mit einem kleinen Buben auf dem Arm. Sie überliess der alten Frau ihren Platz.
«Gar frindlig...», lächelte Annelugge. Knübelte eine Ricola-Perle aus ihrer Handtasche. Und streckte sie dem kleinen Buben mit dem rabenschwarzen Kraushaar zu: «Jeeeh? bisch duu aber e nuggischs Näägerli.»
DAS WAR DER MOMENT, ALS DIE WELT DEN ATEM ANHIELT. Eine der Lehrerinnen setzte abrupt ihr Wasserfläschlein ab: «WAS HABEN SIE DA GESAGT?!»
Annelugge, die seit fast einem halben Jahrhundert schon an Übelhörigkeit leidet und dachte, die junge Pädagogin sei diesbezüglich auch übel dran, trompetete in Lautstärke 20: «Das isch doch e ganz e wonnigs Näägerbiebli!».
Sofort fuchtelten die anderen beiden Lehrerinnen an ihren Kleinsttelefonen herum. Die dritte, die eben noch die Wasserflasche ansetzen wollte, stand drohend vor der alten Frau: «Sie entschuldigen sich sofort. Sie wissen ganz genau, dass?Neger? ein Unwort ist...»
Es erhob sich ein mittlerer Tumult. Einige der Kinder hiepten fröhlich von ihren Sitzen. «Man darf nicht Neger sagen... gell Frau Linowitsch... auch nicht Schwuuli und Zigeuner... und...»
Annelies Sarasin war nur noch ein Fragezeichen.
Die Batterie ihres Hörapparats war wieder mal auf zero. Deshalb lief nun alles wie ein skurriler Stummfilm vor ihr ab. Irgendwie kapierte sie, dass die energische Lehrerin nun nach ihrem Namen fragte.
«Fräulein Sarasin, wenns recht ist», lächelte Annelugge freundlich. Hysterisch wurde sie von der Wasserfrau unterbrochen: «Fräulein?! DAS FRÄULEIN IST SEIT 30 JAHREN TOT, GUTE FRAU!»
Die Phones der Erzieherin waren auf jener Stärke, die Fräulein Sarasin auch ohne Batterien empfangen konnte. «... IST JA TYPISCH FÜR FRAUEN WIE SIE.»
Die Lehrerin liess offen, was typisch und «WIE SIE» war. Annelugge war nun bei ihrer Haltestelle. Sie wollte aussteigen. Doch Fräulein respektive Frau Sarasin wurde sehr unwirsch von den drei Damen am Verlassen des Tramwagens gehindert. Schliesslich tauchte der Führer desselbigen auf. «JA VERDAMMICH? WAS SOLL DENN DAS?! WER BLOCKIERT HIER DIE TÜRE?»
«Sie hat den Kleinen ein Negerkind genannt!» tobte Lehrerin 3 (die mit der Wasserflasche). Und: «Die Polizei kommt sofort...» meldeten die beiden andern Kolleginnen energisch.
Die Gesetzeshüter nahmen Annelugge Sarasin und die schwarze Mutter in Empfang. Dazu die Wasserflasche mit der dazugehörigen Lehrerin. (Nein. Umgekehrt natürlich.)
Endlich fuhr der Tramwagen weiter. Die Passagiere sahen nur noch, wie die Linowitsch auf zwei Polizisten einredete... wie Annelugge Sarasin dem weinenden schwarzen Buben ein weiteres Ricola zusteckte? und sich dann ebenfalls an die Gesetzeshüter wandte: «Sarasin. Fräulein Sarasin, wenns beliebt...»
Fräulein Sarasin
Montag, 11. Juli 2011