Fasnacht

Sie hätte gerne dazugehört. Aber das ging nicht.
Sie war ein Mädchen. Und kam aus einem guten Stall.
DA GEHÖRTE MAN NICHT DAZU, WEIL ES SICH NICHT GEHÖRTE.
«Ich möchte an den Morgestraich!»? Antoinette schaute die Mutter traurig an. Sie kannte die Antwort bereits: «Ein anständiges Mädchen hat bei diesem Plebs nichts zu suchen!»
Am grossen Haus in der Vorstadt wurden die Läden vor den Fenstern geschlossen. Man wusste ja nicht, was diese «Wilden» alles im Sinn hatten.
Antoinette blinzelte durch die Lamellen ins Schwarze der Nacht. Die Trommelschläge liessen sie erzittern. Die Piccolos lamentierten wie weinende Kinder. Sie sah Fackeln vorbeiziehen.
Es war eine Revolution? Antoinette weinte mit den Piccolos um ein Leben, das für sie bereits gestorben war.
Als sie mit 14 Jahren verkündete, sie wolle Trommeln lernen, schauten die Eltern einander vielsagend an. Und schickten das Kind weit weg. Nach Genf. In ein Internat.
In der Morgestraich-Nacht stand Antoinette am Fenster ihres Zimmers. Sie schaute auf den pechschwarzen See. Sie meinte wieder die Piccolos weinen zu hören? und schluchzte mit ihnen.
Mit 20 Jahren heiratete sie einen Bankier der Stadt. Die Eltern waren zufrieden: «Das Mädchen ist vernünftig geworden!»
Antoinette besuchte mit ihrem Mann die Maskenbälle.
Sie wäre lieber an der Strassenfasnacht mitmarschiert. «Das geht nicht!», ihr Mann streichelte ihren Kopf. «Was würden die Leute sagen...»
Gut. Sie wusste jetzt, was sich gehörte. Ein einziges Mal aber wollte sie sich als Maske unter das Volk mischen. Unerkannt.
Also kaufte sie sich im Warenhaus einen jungen Mädchenkopf mit spitzem Larvenmündchen, das frech und kirschenrot in die Gegend herumküsste.
Auf den violett gemalten Augenlidern waren fingerlange Wimpern angeklebt? sie zitterten wie Spinnennetze im Wind.
Es kam nicht zum fasnächtlichen Auftritt.
Denn nun war Krieg. Die Fasnacht wurde auf Eis gelegt? die Larve in den Estrich. Unbenutzt.
Nach dem Krieg schlug das Leben Purzelbäume: endlich wieder Reisen... Kinder... ein Leben auf Aufholjagd. Allzu lange hatte man auf alles verzichten müssen. Es war nun auch «comme il faut», wenn Menschen aus ihren Kreisen sich einer Clique anschlossen. Und Fasnacht zelebrierten.
«Willst du trommeln?», fragte Antoinette ihre Tochter.
Sie wollte nicht.
Die Grosskinder posaunten dann in einer Guggemuusig.
Und obwohl Antoinette bald 90 war, liess sie es sich nicht nehmen, hinter dem tosenden Harst mitzumarschieren.
Als sie der Leiterin des Altenstifts erklärte, sie wolle an den Morgestraich, tätschelte diese Antoinettes Hand. «Das geht leider nicht... viel zu gefährlich! Sie könnten sich ja den Tod holen.»
«Ja, und?», fragte Antoinette.
Eine halbe Stunde vor dem Vier-Uhr-Schlag schlich sie in einem alten Nerzmantel über dem Nachthemd aus dem Haus.
Sie fror. Doch als die Lichter ausgingen, als diese Welle von Piccolorufen und Trommelwirbeln wie ein Orkan über sie einschlug? da war sie für einen Moment glücklich.
Nach ein paar Minuten ertönten bereits die Sirenen des Krankenwagens. Die Sanitäter trugen die Frau im Pelzmantel davon. Einer nahm ihr die Larve ab? eine Larve mit einem kirschroten Kussmund. Und zitternden Wimpern.
Auf dem toten Gesicht lag ein glückliches Lächeln.
ANTOINETTE HATTE ZEHN MINUTEN GELEBT.

Montag, 27. Februar 2012