Als Kinder mussten wir stets in die Berge. Sie waren hoch. Ungemütlich. Und sie drohten.
Vater sah das anders: «Dort oben ist die Freiheit. Spürst du, wie es dich raufzieht?»
Ich spürte gar nichts. Ich spürte nur Lust auf einen Himbeercoupe im Café Schmid.
«Wenn du mit mir raufkletterst, bekommst du nachher den Coupe...», gab Vater den Tarif durch. Daraufhin hängte er mich ans Seil. Und vor meinen Augen tanzte dieser verbeulte Rucksack, in dem kein Himbeercoupe, sondern die Hoffnungslosigkeit und eine Blechflasche mit Lindenblütentee war.
«Lass endlich das Kind in Ruhe», ergriff Mutter am Abend meine Partei, als Vater lamentierte, welches Weichei er da mitgeführt habe. Hoch auf dem Berg, den die Adelbodner «Fitzer» nennen, hatte ich ihm den Gong gegeben. DA WAR MITTEN IN DER WAND EINFACH ENDSTATION. Himbeercoupe hin oder her.
Wie die Glocke am Kuhhals baumelte ich in den Abgrund. Hatte den Koller. Und machte keinen einzigen Schritt mehr.
Vater konnte mir lange gut zureden, toben und das Café Schmid mit all seinen Coupes versprechen. HALF NICHTS.
Schliesslich drohte er mit Sackgeld-Entzug und Sauerkraut zum Znacht. UMSONST.
Fluchend trug er mich ins Tal zurück. Dann soff er den Lindenblütentee ganz alleine. Aber den hätte ich eh nicht gewollt.
Mutter hatte Vaters Bergsucht immer toleriert - überhaupt tolerierte sie alles, was er bestieg.
Sie hatte ein grosses Herz.
Aber sie hatte auch ihre edukative Seite. Deshalb zu mir: «... der Rasen muss gemäht werden. Jetzt ist er schön trocken. Und der Pieren Edi hat das Stechen im Kreuz - das heisst, dass es morgen regnen wird. Deshalb: was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!»
Nicht nur Edukation - auch gereimte Pädagogik. Dazu das Kreuz mit der Wetterprognose. Ich also: «RASENMÄHEN IST EIN GRAUS - DESHALB DIE FRAG?: WAS SPRINGT DA RAUS?!»
Mutter schätzte keine geistreichen Balgen. Sie wollte ein folgsames Kind: «Wer seine eigene Mutter erpresst, wird am Galgen enden!» Das war ihre dramatische Seite.
Ich habe daraufhin Rosie drei Caramel-Muh versprochen, falls sie den Rasen mähen würde. Und bei der Kembserweg-Omi, die während der Ferien auf die Kinder aufpassen sollte, bin ich offensiv angeschleimt: «Ach Omilein, du siehst aus wie deine eigene Tochter. Der neue Strohhut steht dir echt super. Wollen wir zusammen ausgehen und bei Schmid ein Erdbeercüpchen reinlöffeln...?»
Heute, nach 50 Jahren, sitze ich bei Schmid im Tea Room und schaue auf den «Fitzer». Über dem sanften Rahmberg des Himbeercoupes sieht der Berg längst nicht mehr so bedrohlich aus.
Mein lieber Vater löffelt bereits an der dritten Kugel «Himbeer». Mit den Jahren hat er das Herbe der Berge gegen das Süsse der Konditoreien eingetauscht. Nun zeigt er mit dem langen Eislöffel zur düstern Wand: «Dort bist du als Achtjähriger durchgehangen».
«Ja», sage ich. Und reiche ihm die Gehkrücke.
Der Rasen ist übrigens gestern von meinem Göttibub gemäht worden. «Was du heute kannst besorgen...», habe ich ihn munter gemahnt.
Alt werden ist schön.