Eine runde Sache

Es war vor 28 Jahren, als Vally den ersten Kreis zeichnete. Sie war damals Hausfrau. Gustav, ihr Mann, leitete ein Unternehmen. Vally den Haushalt.
Ihre Hausaufgabe war «zu repräsentieren»? wie Gustav es nannte.
Er hatte sie vom Bürostuhl weggeheiratet. Vally war seine Sekretärin gewesen. Und die dritte Ehefrau. Nun präsentierte sie also. Bat zu Tisch. Steckte Blumenmilieus. Und kochte Kalbsbäckchen mit der Niedergarmethode.
In der Freizeit stickte sie Gobelinkissen. Sie kreierte eigene Motive. Meistens Sonnen, die in einen See abtauchten. Vally war in Brienz aufgewachsen. Da gab es schöne Sonnenuntergänge.
Die Sonnen gerieten Vally immer etwas eierig. Nie kreisrund. So kam sie auf die Idee mit dem Zirkel.
Sie hatte diesen noch aus ihrer Schulzeit, als sie in Bern aufs Gymnasium ging. Also setzte sie ihn auf einem Stück weissen Papier an. Drehte den Kreis. Und übertrug ihn auf die Stickvorlage. Mit Lineal und Bleistift zog sie dann zwei Striche durch den Kreis auf dem A4-Blatt. Aus purer Langeweile.
Und als an jenem Abend die Gattin eines andern CEOs das Blatt entdeckt und mit einem spitzen Schrei «Ach, Sie machen Kunst?!» ihre Gobelinvorlage betrachtet hatte, nickte Vally nur.
«Ich führe eine kleine Galerie. Hobbymässig», hatte die Frau gesagt. «Geben Sie mir das Blatt. Meine nächste Ausstellung heisst?FORM IM 23. JAHRHUNDERT?.»
Vallys Stickvorlage mit den zwei Strichen ging für 12 500 Franken an der Vernissage weg.
«Geh sofort an deinen Zirkel!», flüsterte die Hobbygaleristin Vally zu. Sie duzten sich jetzt. Und Vally drehte Kreise für den Nachschub.
Die Kunstkritiker interpretierten künftig wunderbare Dinge in Vallys Rundungen: «... Kampf gegen Rassismus... das Prinzip der klaren Linie... die Wucht des Unendlichen...»? es waren Überlegungen, die Vally nie im Traum eingefallen wären. Aber sie war den Kritikern dankbar, dass die sich so gescheite Sätze für ihre A4-Blätter ausdachten.
Drei Jahre nach dem ersten Kreis wurde Vally an die Biennale eingeladen. Sechs Jahre später kaufte ein Gegenwartsmuseum drei ihrer Werke an. Zu ihrem 40. Geburtstag übergab ihr die Stadt den Kunstpreis.
Ihre Kreise zogen Kreise in der elitären Kunstszene.
Die Leute blieben in den eleganten Villen vor dem Blatt Papier stehen: «Ach, habt ihr auch einen?»
Sie nannte sich jetzt Valeria Mullanowski. Vally Müller-Schlager passte nicht zu ihren Kreisen.
Und als «Die Mullanowski» kreiste sie in London und New York herum.
Allerdings war da auch noch die Villa in der Schweiz, wo alles begonnen hatte. Und wo sie für Gustav hätte «präsentieren» sollen.
Zu ihrem 50. Geburtstag hatte Vally sich die Scheidung zum Geschenk gemacht. «Ich habe meinen eigenen Weg gefunden? eine runde Sache»? gab sie in Interviews eine knappe Erklärung ab.
Gustav tröstete sich mit seiner Sekretärin. Machte diese zur 4. Ehefrau. Und liess sie Kalbsbäckchen mit der Niedergarmethode schmoren.
Auf der Couch von Gustavs Gästezimmer lag ein Kissen. Gobelinstickerei. Es zeigte eine Sonne, die in einen See abtauchte.
«DIESE SONNE IST ETWAS EIERIG», rümpfte die vierte Ehefrau die Nase. Und brachte das Kissen ins Brockenhaus.
Dort habe ich es gefunden. Und seine Geschichte «interpretiert», wie man in Kunstkreisen so sagt...

Montag, 20. August 2012