Sie hasste ihre Lippen.
Lisa schaute in den Spiegel. UND WAS SIE SAH, MACHTE SIE WÜTEND.
Weshalb hatten andere Weiber diese herrlichen Schmusemündchen? Oder ein paar weiche, stets leicht schmollende Kusslippen?
Und weshalb? HERRGOTTNOCHMAL!? hatte ER ihr nichts gegeben? BUCHSTÄBLICH NICHTS.
SEINE Beigabe waren zwei fadendünne Strichlein, die ihr energisches Vorstehkinn betonten. Und die leicht hakenförmige Nase noch grösser erscheinen liessen.
Von wegen Kussmündchen! Oder Herumschmuserei.
WER WOLLTE SICH SCHON VON ZWEI FADEN FADENSTRICHEN ABBACKERN LASSEN?
Walti, ihr erster Chef, hatte mal gegrinst: «Es ist, als ob einer mit der Rasierklinge in eine Kartoffel geschnitten hätte...»
Der Vergleich hinkte. Aber sie wusste, was er meinte.
Nach vier Überstunden und acht Gin Fizz hatte Walti allerdings keine Bedenken mehr. Er war nun mal ein Riesenbock. Und zeigte Bock auf alles.
Speziell, weil er zu Hause eine mühsame Zicke in seinem Stall hatte.
Allerdings: geküsst hatte ihr Chef Lisa nie. NIE.
Dabei sehnten sich ihre Dünnstriche nach dessen wulstigen Lippen (Lisa hätte auch den schlechten Atem dahinter in Kauf genommen). Doch nichts da. Walti griff ihr unter den Rock. Und hakte den Büstenhalter auf. Sie hatte schöne Brüste.
DAS IMMERHIN. Und dort verweilten die Wulstigen sowie anderswo. ABER NIE AUF IHREM GESICHT. UND NIE AUF IHREN LIPPEN.
«Strichmädchen», hatten sie ihre Schulfreundinnen gerufen! SCHÖNE FREUNDINNEN DAS!!
Ihre beiden Striche waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Das waren sie stets, wenn Lisa sich im Spiegel betrachtete. Und böse war.
Böse mit sich? böse mit der Welt.
War es JACKIE Kennedy, die mal gesagt hatte:
«DAS BÖSE DIESER WELT KOMMT VON DEN UNGLÜCKLICHEN!»
Blöde Kuh. Üppige Lippen hatten da gut reden? dumm und ahnungslos.
Sie versuchte es mit einer Blaskur. Ging so: jeden Morgen vor dem Zähneputzen gab sie ihren Lippen ein starkes? «P». 500-mal... ppp... ppp... ppp. Das hatte sie aus einem Ratgeber. Es würde die Lippen weich und voll machen? so hatte die Rubrik-Tante in ihrer Hochglanzkolumne einer Leserin das Lippenbekenntnis abgegeben. Nach drei Monaten und rund einer halben Million starker «P» brach Lisa die Übung ab. Ausser, dass sie die starken «P» jetzt wie auf der Dramabühne artikulierte, hatte die Sache nichts gebracht. Sie probierte es natürlich mit allen Schminktricks.
Aber immer wenn Lisa die schmalen Striche mit einem dieser teuren Stifte (weil sie es sich wert war) übermalte, sah sie aus wie Jack Nicholson in seiner Rolle als maliziöser Joker.
Die Erbschaft traf sie dann völlig unvorbereitet.
Längst schon hatte sie Walti, dessen Kanzlei und alle Gin Fizz verlassen, als ihr das Erbschaftsamt in seinem Namen 10 000 Franken für treue Dienste hinterliess. Der Rest ging an die Zicke. Aber immerhin.
Herr Pölsterli, Spezialarzt für plastische Chirurgie überredete sie zum Modell «Brigitte Bardot».
Hastig fügte er dann hinzu: «... natürlich, bevor sie Hunde schützte.»
Es ging relativ schmerzlos. Die Lippen wurden ordentlich? vielleicht etwas zu ordentlich.
«Luftkissen-Lisa» grinsen die Kolleginnen nun hinter ihr her.
SCHÖNE KOLLEGINNEN DAS!
Manchmal steht Lisa vor dem Spiegel. Spitzt den Mund? und freut sich über die dicken, rotgestrichenen Lippen, die ihr wie ein Gummiboot im einsamen Meer entgegenleuchten. Dann drückt sie ihnen auf dem Spiegel einen Kuss drauf.
Der Spiegel ist eiskalt.
Zurück bleibt ein vernebelter Ring auf dem Glas.
Und ein bisschen Rot.
Dünne Lippen
Montag, 19. März 2012