Hannchen verführte mich.
Es war in der ersten Primarklasse. Und ich war alles andere als scharf auf Hannchen.
Aber das Biest lud mich «zum Aufgabenmachen» zu sich nach Hause ein. Auch Lisa. Und Hubert. Sie lockte uns alle mit «Schokokuchen», den ihre Mutter so wundervoll zubereiten würde.
DA WAREN ABER NUR ZUCKERSCHNITTEN UND TEE? na ja. Immerhin.
Hannchen fragte uns, ob wir auch schon «Doktor» gespielt hätten. Wir hatten nicht. Ahnten aber, dass es spannend werden könnte.
Also warf sich Hannchen auf die Coach. Sie verteilte lässig die Rollen: Hubert sei der Oberarzt. Ich sein Assistent. Und Lisa die Operationsschwester. Dann zog sie sich aus. Und wollte, dass die Ärzte dasselbe tun. Nur Lisa bekam ein Küchentuch auf den Kopf drapiert, das die Schwesternhaube markieren sollte.
ES WAR ALSO SPANNEND.
Wir operierten mit Suppenkellen und nahmen mit dem Salatbesteck alles Wesentliche unter die Lupe.
Hannchens Mutter kam eben nach Hause, als ihre Tochter mit einer gründlichen Unterleibskontrolle an den beiden Ärzten beschäftigt war. Geschrei. Gezeter. Und abends, als wir in trautem Familienkreis Spiegeleier mit Spinat assen, schellte es. Draussen stand Hannchens Mutter. Die dumme Kuh erklärte meiner Mutter einiges. Und nannte mich einen Schweinehund? «SAUNIGGEL», so der Originalton.
Meine Mutter machte «zzzz». Und: «Es sind halt Kinder.»
Die Meckerziege rauschte mit Getöse ab. Als sie gegangen war, schaute mich Mutter lange an: «Du wirst nicht mehr mit Hannchen spielen... Das ist kein Umgang für dich.»
Viele Jahre später, als ich mich in einen rosa Pullover zwängte, um beim Psychiater einen «Freischein» für den Militärdienst herauszujammern, legte der mich auch auf die Coach. Ich erzählte ihm von Hannchen und Hubert. Und er meinte, das Erlebnis hätte meine sexuelle Ausrichtung nicht geprägt. Sondern sei für Primarschüler «ganz normal» gewesen.
Dann erklärte er mich für «dienstuntauglich». Und nannte als Ursache das «Schneewittchen-Syndrom».
Okay. Ich konnte ganz gut mit diesem Syndrom leben. ABER DIE VERGANGENHEIT HOLT DICH IMMER WIEDER EIN.
Da stehe ich doch an einer Vernissage etwas verloren vor all diesen Bildern, die keiner kapiert und über welche jeder irgendetwas Gescheites zu sagen versucht? PLÖTZLICH STEHT DA AUCH HANNCHEN. Sie nennt sich jetzt allerdings «Hanna-Maria» und gibt Yoga-Stunden sowie chinesisches Kochen.
«Hallo», sagte Hannchen.
«Hallo», sagte ich.
Hannchen alias Hanna-Maria erzählte mir von den zwei Ehemännern, die sie beide zum Teufel geschickt hatte. Von ihrem Grosskind Shirley, das eine grosse Nummer im Thai-Boxen sei. Und wie schwierig es ist, Interessenten für ihren chinesischen Kochkurs zu finden. Ob ich nicht einen Artikel über sie schreiben könnte...?
«... und was macht Hubert?», lenkte ich ab.
«Wer ist Hubert?», fragte sie pikiert.
«Vergiss es», winkte ich ab.
Hätte ich ihr sagen sollen, dass er mal ihr Oberarzt war?
«Die Menschen wollen heute nur noch die Schnellküche», nahm sie den Faden wieder auf.
Gottlob tauchte da Innocent auf und schleimte drauflos: «... und wer ist diese interessante Dame?»
«Hannchen», sagte ich kalt, «meine Mutter meinte, sie sei kein Umgang für mich.»
Doktorspiele
Montag, 13. September 2010