Die verpassten Gelegenheiten

Nun haben wir also wieder Vorsätze gefasst.
Okay. Gehört dazu.
Es ist wie ein weisses Blatt Papier, wenn man den 48. Entwurf weggeworfen hat? ein Neuanfang. UND ES GIBT NICHTS SCHÖNERES ALS DEN NEUSTART? ER IST AUFREGEND. PRICKLIG. BIS MAN MERKT, DASS WIR WIEDER BEI DER ALTEN SCHEISSE SIND.
Ich habe dieser Tage über verpasste Gelegenheiten nachgedacht. Wenn man älter wird, geht einem all das durch den Kopf, das man nicht getan hat. Und schon Tante Gretchen sagte: «ES PLAGT EINEN NICHTS SO SEHR ALS MÖGLICHKEITEN, DIE MAN NICHT GENUTZT HAT...» Tante Gretchen war weise. Sie fuhr mich eines Tages zum Haus meines Vaters. Und zeigte zum Fenster, hinter dem er todkrank im Bett lag: «Ihr habt noch viele Rechnungen offen. Sei kein Weichei. Geh hoch. Und rede mit ihm? über alles, was ihr einander nie gesagt habt.» Es wurde ein langer Nachmittag. Es wurde auch ein Nachmittag mit Tränen? und zwar auf beiden Seiten. Aber danach war alles klar. Als mein Vater ein halbes Jahr später starb, war ich froh, dass ich die Gelegenheit genutzt hatte.
An jenem Nachmittag war es auch, als mir mein Vater gestand: «Ich bereue nur eine Sache, die ich einfach verpasst habe... Du weisst, was ich meine!»
ICH WUSSTE ES.
Vater war sonst nicht das, was man «einen Mann der verpassten Gelegenheiten» hätte nennen können. Im Gegenteil. Er griff sofort zu. Als meine Mutter aber noch vor ihrem 60. Geburtstag unerwartet ins Koma fiel, als sie zwei Jahre lang auf dem Spitalbett die Decke anstierte und niemand wusste, in welcher Welt sie eigentlich war? da liess Vater alle Gelegenheiten sausen. Er besuchte keine Sitzungen mehr. Liess Politik Politik sein? und alle seine Freundinnen erlebten ihn nur noch mit roten Augen und belegter Stimme. Als einfühlsamer Sohn versuchte ich ihn abzulenken. Innocent lud ihn auf die Insel ein? aber er winkte immer wieder ab. Und ging ans Krankenbett meiner Mutter. Jeden Tag. Und mit dem schweren Seufzer: «Wenn ihr Geist wieder zurückfindet, will ich ihr als Erstes sagen, dass sie immer meine Nummer eins war...»
Meine Mutter starb. Und mein Vater konnte ihr nicht mehr sagen, dass er sie immer geliebt hatte. Die vielen Rosen, die er danach aufs Grab schleppte, brachten keinen Trost. Verpasste Gelegenheiten sind die nicht verheilten Narben in unserem Fleisch.
Und nun dies: Wie immer sind wir über die Festtage in die Einsamkeit geflüchtet. Und haben die Stille der toskanischen Halbinsel genossen. Zwei Tage musste ich dann nach Rom. Ich verliess die Insel nur ungerne. Und natürlich war die Technik daran schuld. Der Computer hatte den Geist aufgegeben. WELTUNTERGANG. Denn irgendwie mussten die Glossen nach Basel gebeamt werden. Also fuhr ich zu meinem Römer Fachmann für alle Fälle. Und war entsprechend genervt.
Es war kalt in Rom. Eisig. Das ist eigentlich selten. Zu dieser Jahreszeit blühen sonst bereits die ersten Mimosen.
Die Zeitungen schrieben über die vielen Obdachlosen, die man vergeblich in die Notunterkünfte am Gürtel der Stadt evakuieren wollte. Die Leute weigerten sich. Und legten noch drei Schichten Wellkarton mehr auf. Die Zeitungen berichteten von den Obdachlosen, die auf der Strasse gestorben sind. Die Kälte hatte sie geschafft. Und die Artikel riefen nach einer Lösung? die Regierung konterte. «Wir haben geheizte Obdachlosen-Unterkünfte!»
Wie ich nun genervt (weil die Anhänge zu meinen Berichten einfach nicht geschickt werden können und auch der römische Internetguru vor einem Rätsel steht) wieder die Stadt verlasse und bei der Bocca della Verità vor einem Rotlicht warte, humpelt einer dieser Obdachlosen vor mein Auto. Er winkt mit einem Lappen. Und will mir die Scheibe putzen.
Die Scheibenputzer an den römischen Rotlichtern gehören zum Stadtbild, wie das Kolosseum. Oder die roten Socken vom Papst. Sie sind mitunter lästig. Und lassen sich nicht wegwinken.
Auch dieser nicht. Ich wedle ihn genervt ab. Er putzt trotzdem. Ich werde wütend und fahre einen Schritt vorwärts. Er hüpft zur Seite. Und macht mir den Vogel. ICH BIN SAUER ÜBER MICH SELBER. Grünlicht. Weiterfahrt. Und auf dem Lungotevere packt mich das schlechte Gewissen. Wie eine eisige Hand greift es mir an die Gurgel: «Du alter, fetter Trottel? da ist einer, der deine Hilfe braucht. Und du schaust einfach weg? nur weil im Moment nicht alles nach deinem Kopf geht...»
Bei der Einfahrt auf die Autobahn ziehe ich unter lautem Gehupe der andern einen U-Turn. Und fahre retour. Zwei Stunden jage ich bei der kleinen Kirche mit der «Bocca» herum und suche den Obdachlosen. Aber er ist nicht mehr hier. Mittlerweilen ist es Nacht geworden. Und die Weihnachtsglühbirnen verhöhnen mich mit ihrem kalten Licht.
Ich gehe in eine nahe Bar. Der Mann hinter der Theke erzählt, dass sich die Fensterputzer hier mitunter aufwärmen würden. Dann schiebt er mir meinen «caffè marochino» zu: «... der eisige Winter hat bereits zwei erfrieren lassen. Scheussliche Zeiten! Und keiner hilft...»
Es wurde kein guter Neujahrsanfang. Als um Mitternacht die Raketen über der Insel zum Himmel stiegen, dachte ich an den Scheibenputzer. Und über die Gelegenheit, die ich verpasst hatte.
Wir sollten weniger gute Vorsätze fassen? wir sollten jedoch vermehrt die Gelegenheiten zum Guten nutzen!

Montag, 3. Januar 2011