Die stille Runde

Sie trafen einander im Supermärt. An der Imbissecke. Tag für Tag.
Es gab dort eine kleine Bar. Und Rotwein im Offenausschank.
Und es gab dieses Leben, das ihnen irgendwo abhandengekommen war.
Oft sassen sie stundenlang da. Eine stille Runde. Sie sprachen kein Wort. Schauten mit rötlichen Augen über das Glas dem hektischen Hin und Her der Leute zu: Türkische Frauen stopften ihre Kinder mit klebrigen Baklavas voll... junge Männer schäkerten mit den Reisebürodamen... am Delikatessenstand gingen Kalamaresringe mit weissen Teigmänteln im Öl baden.
Es war ein interessanter Platz. Und wenn es Mittag wurde, schaute sie die Barfrau streng an. Dann verzogen sie sich wortlos auf eine Stahlbank beim Lift. Und gaben den Tresen frei für alle die «armen Sieche» (wie Guschti sie nannte), die 25 Minuten Mittagspause und einen Essbon fürs Menü 2 hatten.
Jeder lebte für sich alleine. Und doch waren sie wie eine Familie. Hans (83), Witwer und pensionierter Trämler mit einstigem Bienenhaus und einer frisch eingebauten Huft; Guschti (79), Taxifahrer im Ruhestand und ledig. (Die andern hatten ihn nie gefragt, ob er schwul oder einfach nur beziehungsunfähig sei? sie fragten nie persönliche Dinge. Sie fragten überhaupt nichts. Und kannten einander mit den Jahren doch besser als jeder sich selber.)
Dann war da René (80), Alkoholiker und IV-Bezüger, der stundenlang Wilhelm Busch rezitieren konnte. Natürlich tat er dies nie. Nur wenn er einen Alki-Rückfall hatte.
Und schliesslich: Ernst (73), ehemaliger Primarlehrer, geschieden und Federer-Fan. Ernst verfolgte Schritt und Schlag des Tennisspielers. Dazu zog er einen Mini-Computer aus dem Mantelsack. Tippte darauf herum. Und brummte dann ins Leere über den Tresen: «... heute hat er Mühe.»
Die andern interessierten sich nicht für Federer. Und schauten ins Glas.
Wenn das Supercenter abends um acht Uhr schloss, gingen sie wortlos auseinander. Am anderen Morgen kamen sie wieder? so sicher wie das Amen in der Kirche. Und die Kalamares ins Öl.
Es war Mittwoch, als Hans nicht erschien. Man nahm es wortlos hin. Aber irgendwie war da kein Zug mehr am Glas. Etwas war anders. Die drei sagten nichts? ihr Schweigen war jetzt eine missbilligende Anklage: Man fehlte nicht einfach so... Als Hans am Freitag noch immer nicht erschien, wurde das Schweigen gebrochen: «Weiss jemand, wo er wohnt?»
Stille. Und Achselzucken.
Ernst hakte nach: «Vielleicht liegt er tot im Bett... wer würde ihn vermissen? Er hat doch niemanden...»
Wieder Schweigen. Und: «Helga, noch ein Glas vom Kalterer!»
Am Dienstag riefen sie nach dem dritten Glas die Spitäler an. Ob irgendwer mit Namen HANS eingeliefert worden sei.
Es gab zwei Fälle. Sie humpelten ans Krankenbett. Es war beide Male nicht Hans.
Eine Woche später tauchte Hans stumm wieder auf. Wort- und grusslos. Wie immer.
Für einen kurzen Moment vibrierte die Luft.
Doch niemand fragte etwas. Sie bestellten bei Helga den Kalterer. Und als zur Mittagszeit die ersten Bankangestellten mit ihren Essbons anmarschierten, und sie zur Bank beim Lift dislozierten, knurrte Guschti: «Armi Sieche!»
Sonst war nichts zu sagen.

Montag, 5. Dezember 2011