Die Angestellte

Fritzi siebte die Fleischsuppe in eine Thermos­flasche ab. Die dampfende Hühnerbrust und das Suppenfleisch gab sie in eine Alu-Schale.
ES DURFTE NICHTS VERKOMMEN. Das hatte sich ihre Familie auf die Fahne geschrieben. Und mit diesem Credo den Grundstein zum Reichtum gelegt.
Fritzi? eigentlich Frederike, aber sie hasste diesen Namen und wollte schon als Kind «Fritzi» genannt werden? wuchs in einer Familie auf, in der gespart wurde. Und niemand genau wusste, wie viel Geld eigentlich da war.
«Sorgsam das Vermögen verwalten... anonym sozial wirken... AUF GAR KEINEN FALL DURCH EXTRAVAGANZEN AUFFALLEN UND SO DEN NEID DER ANDERN SCHÜREN!»
Das war das elfte Gebot der Reichen.
Fritzi konnte die heutige Zeit nicht verstehen. Das Geschrei von Politikern und Gewerkschaftern nach geregelten Mindestlöhnen, freien Sonntagen und Schwangerschaftsurlaub fand sie töricht. Ihre Haushälterinnen hatten stets Überstunden gemacht, wenn Gäste kamen. Und Greta war schon drei Tage nach der Geburt ihrer Tochter wieder am Bügelbrett gestanden.
WAS WAR DA SCHLECHT DARAN?
Für Fritzi waren die Angestellten Persönlichkeiten. Keine Gewerkschaftsnummern. Sie waren ein Teil der Familie? und Respektspersonen. Zugegeben, der Lohn war niedrig. Aber die Leute wussten, dass sie auf die Patrons zählen konnten. Treue wurde mit Treue entgolten.
Als Ilse angestellt wurde, war sie Küchenmädchen. Dann avancierte sie in den Salon. Und servierte bei Tisch.
An ihrem 26. Geburtstag bat sie Madame um eine Unterredung. Ilse wollte heiraten.
«Aber doch nicht diesen Aufschneider mit den lackierten Locken!», protestierte Fritzi.
«Doch Madame, genau den!», flüsterte Ilse. Und: «Ich bitte Sie, mir die Zähne zu bezahlen...»
Es war Usus, dass die Mädchen der niederen Stände sich die Zähne ziehen liessen und mit einem Gebiss in die Ehe gingen? um den Ehemännern so keine «Unkosten» zu bereiten.
Fritzi bezahlte die Zähne? und schenkte ihrer Stubenmagd die Aussteuer fürs Schlafzimmer. Zehn Jahre später stand Ilse vor Fritzis Türe. Blaue Flecken. Abgemagert. Verweinte Augen.
«Komm», sagte Fritzi. Sie stellte keine Fragen. Und die junge Frau wieder im Haushalt an.
So wurden sie zusammen alt. Und als Ilse dann diese Krankheit mit den zitternden Händen bekam und den Tee nicht mehr servieren konnte ? ja, als ihr Rücken sich wie ein Hufeisen krümmte, da wusste der Arzt keinen anderen Rat, als festzustellen: «Ihre Haushälterin braucht rundum ärztliche Betreuung.»
Fritzi liess Ilse also in ein Pflegeheim bringen. Dort besuchte sie die Angestellte jeden Tag. Und löffelte ihr Fleischbrühe ein? dieses Allerweltsmittel, das Ilse auch Fritzi immer eingeflösst hatte, wenn es ihr mies ging.
«Es tut mir leid, dass ich solche Umstände mache, Madame...», flüsterte Ilse.
Fritzi hustete energisch: «Red keinen Unsinn. Die Familie hat dir lange genug Umstände gemacht!»
Ilse versuchte vorsichtig ein Lächeln und sagte zu Fritzi: «Dort Madame...! Ich brauche sie jetzt nicht mehr!»
Ilse zeigte auf das Glas mit den Zähnen. Und Fritzi spürte, wie ihr die Tränen hochkamen. «Blödsinn. Wir lassen uns doch nicht so schnell unterkriegen? nicht unsere Generation, Ilse!»
So sass Fritzi wie jeden Tag bis zum Abend an Ilses Bett. Und hielt ihr die Hände.
Und das war in keinem Vertrag gewerkschaftlich verankert.

Montag, 8. April 2013