Der Alte nahm den Nagel aus dem Mund.
Bedächtig klopfte er ihn auf die Sohle. Eine heilige Handlung.
Max betrachtete den leicht verstaubten Schuh.
1950, als die Grenzen wieder offen und die Sehnsucht nach der Fremde gross war? auf seiner Hochzeitsreise hatte er dieses Paar Lackschuhe gekauft.
Es war in London gewesen: Sie funkelten in einem winzig kleinen Schaufenster an der Regent Street.
Max sah es auf den ersten Blick: Smokingschuhe der feinsten Art. Handgemacht. Hochglanzpoliert.
Und tintenschwarz.
Lisa und Max hatten das Geschäft des Schuhmachers betreten. Max mit klopfendem Herzen. Lisa mit dem Spruch: «Zu Lack passt Frack!»
Er liebte Lisa für deren spritzige Art. Und er liebte Schuhe? weil sie sein Leben waren. Schon sein Grossvater hatte Schuhe repariert: Sein Vater hatte dann die Werkstatt übernommen? und er selber war nun der letzte Schuhmacher der Stadt.
Max verstand seinen Beruf. Für ihn waren handgemachte Schuhe Kunstwerke. Er taxierte sie wie Bilder? «Meisterstück». Oder: «Schlechter Stil».
Die schwarzen Lackschuhe waren Meisterklasse.
Sie sprengten sein Budget? doch Lisa: «Du wirst sie wohl nie tragen, weil du keinen Frack besitzt.
ABER ICH VERZICHTE AUF DEN PERLENRING... und wir stellen die Lackschuhe in der Stube als Skulptur auf. Als Souvenir von dieser Londonreise...»
Er küsste sie. Und nahm sich fest vor, ihr den Perlenring zum 5. Hochzeitstag zu schenken. Es kam nicht dazu. Sie starb nach vier Jahren Ehe.
Zurück blieben die Schuhe. Und Erinnerungen.
Ohne Lisa war das Leben trostlos. Auch die Schuhe, die man ihm nun zum Reparieren brachte, waren es: plumpe Pumps. Highheels, deren Absätze brachen, wie Zahnstocher im Amalgam.
Mokassins aus chinesischem Kunststoff. Der Regen weichte sie nach den ersten Tropfen auf wie die Milch das Brot.
Die Londoner Lackschuhe standen jetzt als Zeugnis einer besseren Laufzeit im Schaufenster.
Alleine hatte er die englischen Erinnerungen daheim nicht mehr ertragen können.
Leute, die Schuhe zum Reparieren brachten, wurden immer seltener. Sneakers und Ballerinas waren bald ausgelatscht. Sie wurden weggeworfen? wie die Menschen eben auch abgelaufene Lebenspartner auf den Müll schickten.
Immer öfter kamen Leute in sein Geschäft, die fragten: «Haben Sie hier auch einen Schlüsselservice...?»? HATTE ER NICHT. ER WAR SCHUHMACHER. NICHT SCHLOSSER.
Die Jahre jagten ihm und seinem Beruf davon? die Zeit trug Joggingschuhe.
Seine letzten Freunde waren gestorben. Nun war er alleine? alleine mit einem Paar englischer Schuhe, die der verstaubte Glanzmoment seines Lebens waren.
Zum ersten Mal schlüpfte er hinein. Und machte vorsichtig ein paar Schritte durch sein Geschäft.
Sie waren ihm etwas eng. Aber sie glänzten wie der Sternenhimmel.
«Vollkommen!», flüsterte der Schuhmacher. Sein Herz bummerte wie verrückt. Und er war seit Langem wieder glücklich.
Man fand ihn dann drei Tage später im Geschäft.
Eine Frau wollte nach einem Schlüsselservice fragen. Und sah ein paar Schuhe hinter dem Ladentisch hervorblitzen.
«Herzversagen», erzählte die Frau später einem Lokalreporter, «... er stecke in viel zu engen Latschen. Lack. Wer trägt denn heute so etwas noch?» Im Sarg trug er das Totenhemd. Und die schwarzen Schuhe.
Unpassend. Aber sein wächsernes Gesicht lächelte glücklich.
Der Schuhmacher
Montag, 23. Januar 2012