Der Schriftsetzert

Rolf schlug die Augen auf. «Alles weiss», dachte er. «Wie auf dem Weg zum Himmel...»
«Haben Sie einen Wunsch?», hörte er eine Stimme sagen. Es war die schwarze Hilfsschwester. Er versuchte, den Daumen nach oben zu heben. Und flüsterte: «Alles okay...»
Natürlich würde er sterben. Das war ihm schon klar gewesen, als sie ihn zu Hause abholten. Auf die Bahre banden. Und Frau Huber, seine Nach­barin, im Gang die Tränen zurückhielt: «Kommen Sie bald gesund zurück, Herr Lüthy...»
Was dann passierte, wusste er nicht mehr. Dämmerzustand. Er kapierte nicht, was die Ärzte mit ihm machten? so wie er seit vielen Jahren das ganze Leben nicht mehr kapierte.
Er hatte Schriftsetzer gelernt. Ihn hatten Zeitungen und Buchstaben immer fasziniert. Sein Vater, ein Fabrikarbeiter, war auf den «Vorwärts», eine politische Zeitung, abonniert gewesen. Rolf verschlang die Artikel im Blatt. Und wusste: Ich will einmal Schriftsetzer werden. Dann trat er in die Gewerkschaft seines Vaters ein.
Nach der bestandenen Lehre warfen ihn seine Kolle­gen in einen Brunnen. Diese Wassertaufe war Tradition. Später durfte man niemanden mehr in einen öffentlichen Brunnen werfen. Aber wer wurde schon noch Schriftsetzer?
Jahrelang hatte er im «Setzer-Saal» der grossen Ortszeitung in seinem Stuhl gesessen. Es war heiss in der Halle? «Ganzjahreskaribik» hatten seine Kollegen das genannt. Der schwere Bleibarren, aus dem die Buchstaben gegossen wurden, löste sich in der Hitze in eine silbrige Sauce auf. «Dlaggg... dlaggg... dlaggg», so fielen die Buchstaben in den Eisenrahmen.
Rolf hatte das korrigierte Manus vor sich. Am liebsten mochte er Todesanzeigen. Die waren knapp. Und leicht zu verstehen? am wenigsten mochte er die Artikel der leitenden Redaktoren. Alle zehn Minuten kamen sie angerannt. Wollten etwas geändert haben. Rolf musste dann die noch warmen Buchstaben rauswerfen. Und... dlaggg­dlagg-dlaggg... durch heissere ersetzen.
Elsie, seine Frau, hatte ihn hin und wieder im Setzer­saal besucht. Er schrieb dann in 48-Punkt-Kursiv ihren Namen:
ELSIE.
Sie nahm das Stück Blei lachend entgegen: «Dass du es in dieser Hitze aushältst... Wie weiss ein Setzstuhl überhaupt, wo ein Artikel zu Ende ist? Und wo ein neuer beginnt?»
Rolf zeigte ihr die Taste: SL. SCHLUSSLINIE: «Wenn ich die drücke, kommt ein dicker Bleistrich. Das ist der Schluss. Das Ende eines Kapitels...»
Gottlob hat er die Umstellung auf Computer nicht mehr mitmachen müssen. Seine Kollegen klopften ihm auf die Schulter, wenn sie Rolf vor einem Bier im «Mutz» trafen: «Sei froh, dass du es hinter dir hast... Es ist alles anders. Total verrückt.»
«Haben Sie einen Wunsch?», jetzt war es der leitende Arzt. Er hatte ihm vor vier Jahren Hoffnung gemacht: «Man kann mit Krebs sehr lange leben...»
«Ich möchte noch einmal an meinen alten ­Setzstuhl zurück...», flüsterte Rolf.
«Grossartig...», sagte der Arzt. Und lachte.
Rolf wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren, als er vor seinem Setzstuhl sass. Das geschmolzene Blei zitterte in der Hitze. Und er suchte nach dem Manus.
Ein Mann in dunklem Anzug reichte ihm den Zettel? es war eine Todesanzeige.
Sie trug seinen Namen.
Rolf lächelte: «Ja dann...» Seine Finger flogen über die Tasten. Und? dlaggg-dlaggg-dlaggg? es kamen die Buchstaben heraus.
Der Mann winkte, ihm zu folgen.
Langsam erhob sich Rolf. Und drückte vorher noch die SL-Taste. Kapitel fertig.

Montag, 24. September 2012