Der nackte Mann

Der Herr stand nackt vor ihrer Tür. Alice Hämmerle musterte ihn genau. Das letzte Mal, als sie einen nackten Mann gesehen hatte, war bei der Einsargung ihres Gatten gewesen. Viel hatte es da eh nie zu sehen gegeben. «Bitte!», japste der Mann. Und hielt seine flatternden Hände vor das Drittbein. «BITTE! ICH WILL NICHTS VON IHNEN. ICH BIN SCHWUL UND...»
Gedankenblitz von Alice: «DAS SAGEN SIE ALLE!» Sie bat ihn ins Zimmer. Holte ein Badetuch. IHR Badetuch. Das war auch so eine Schwachstelle dieses Luxuskastens: ein einziges Badetuch! Dazu die Aufforderung, man solle an die Umwelt denken und es nicht gleich zum Waschen geben... DIES BEI 5 STERNEN PLUS!
Die Ferien im Meraner Wellness-Ressort waren eh eine herbe Enttäuschung. Die freundliche Dame im Reisebüro hatte ihr eine Arktis-Fahrt vorgeschlagen: «... wenn es weiterhin so heiss bleibt, sind in zehn Jahren die Eisberge weg. Die haben Sie dann doch noch gesehen. Dazu die niedlichen Eisbären. Es gibt solche, die winken den Touristenschiffen zu und...»
Alice Hämmerle mochte keine winkenden Eisbären. Und schon gar keine Schiffe. Schiffe schaukelten. Und sie hatte als kleines Mädchen schon auf der Wippe losgekotzt. Deshalb: «... ich habe eher an einen Wellness-Aufenthalt in Südtirol gedacht. Die Leute sollen dort besonders nett sein...»
Alice räusperte sich verlegen. «Der Preis spielt keine Rolle...» «Aha», sagte die Urlaubshändlerin. «Aha!» Und Alice errötete: «... mein Mann ist gegangen. Sein Konto ist mir geblieben!»
Es war keine besondere Ehe gewesen. Durchschnitt halt. Er malochte sich zum dritten Herzinfarkt. Sie hatte ihn zu Stoppen versucht: Schrotkuren... Personal Trainer. Alles umsonst: «Den Weisswein saufe ich auch ohne Kur...», lachte er. Mit seinem Mucki-Trimmer diskutierte er 45 Minuten über Aktienkurse. Dann spulten sie gemeinsam die fünf Tibeter ab. Und investierten in Schweizer Banken. Das Resultat: INFARKT AUF ALLEN SEITEN. Nach seinem Tode genoss sie ihre Freiheit. Kein Pflichtkorsett mehr? keinen Stundenplan. Allerdings? der alleinstehenden Frau trat die Welt skeptisch gegenüber. Verheiratete Freundinnen luden sie nicht mehr mit anderen Pärchen zusammen ein. Sondern organisierten Frauenabende.
Im Meraner Hotel wies der Ober ihr einen Platz ganz hinten im Speisesaal zu. Einen miesen Einertisch. Die Kellner gingen daran vorbei, als hätte man dort die Flaschenentsorgung hingestellt. Am Pool, wo sie schon frühmorgens einen Liegestuhl mit ihrem Badetuch belegt hatte, war das Tuch einfach weg gewesen. Und in der Bar sass sie einsam in einer Ecke, schlürfte an einem Cocktail, den sie «Seelenwärmer» nannten, und musste sich eingestehen, dass selbst ein winkender Eisbär besser war als das hier!
Nun sass der nackte Mann in ihrem Fauteuil und grinste plötzlich: «Ich wollte meinen Freund im Nebenzimmer mit «HALLÖCHEN... HIER KOMMT DER NACKTE ZIMMERSERVICE!» überraschen... Ist natürlich kindisch... Ich klopfte wild... aber der hat den Hörapparat nicht drin... da können 20 Elefanten an seine Hoteltüre trommeln... Prompt ist meine zugeschnappt. DA STAND ICH. PUDELNACKT. Wie in einer billigen Lachnummer. Kann ich mal den Concierge anrufen...?»
Am nächsten Tag winkten zwei elegante Herren in weissen Sportkostümen Alice zu. Sie baten sie an ihren Tisch. Die Umgebung begann zu flüstern.
«Die Herrschaften kennen sich...?», schleimte der Oberkellner.
«... RUNDUM NATÜR!», konnte es sich Alice nicht verkneifen. Und setzte sich zu den Männern. Der Oberkellner machte das Männchen. Und flüsterte: «Alle Achtung, Signora!»
Künftig hatte sie die besten Liegeplätze am Pool. Und wunderbare Gesellschaft an der Bar. Sie verlängerte den Urlaub bis zur Abreise ihres Nacktabenteuers.
Zu Hause drängten die Freundinnen: «... stell sie uns endlich vor!»
«Geht nicht», lächelte Alice, «wir fahren gemeinsam in die Arktis...»
«Ich dachte immer, du fändest Schiffsreisen zum Kotzen», meinte eine spitz.
«Es hat auch Eisbären, die winken...», legte Alice noch einen drauf.

Montag, 12. September 2011