Der Messerwerfer

Immer wenn der Mai ins Land zieht, blühen auf der kleinen Insel die Mohnblumen.
Wie frische Blutlachen nach einer Schlacht leuchten die PAPAVERI in den Feldern. Die Ältesten im Ort nicken einander zu: «Der Mohn bringt uns die alte Anna zurück?»
Anna Pozzi war die Kartenlegerin der Insel. Es gab wohl keinen der 800 Insulaner, dem sie nicht die Zukunft vorausgesagt hätte. Was heute die Feen mit den Wetterkarten, war Anna mit dem Kartenspiel. Nur war Annas Trefferquote höher. Natürlich grinsten alle über das Kartenlegen. Dennoch hatte jeder Respekt vor Anna. Gar manchem wehte ein eisiger Hauch über den Rücken, wenn sie ihn zum Schluss des Karten-Orakels anschaute und sagte: «Ich kann alles sehen? aber wir können nichts dagegen tun. Das Schicksal ist mächtiger als wir?»
Luisa, Annas Tochter, war das schönste Mädchen am Hafen. Als der Zirkus kam und sich die 17-Jährige in den Messerwerfer Stefano verliebte, schrie Anna, dass man es bis zur Nachbarinsel hören konnte: «DU LÄSST DIE FINGER VON IHM? ER JAGT JEDEM ROCK NACH? ICH SEHE, DASS ER BLUT AN DEN HÄNDEN HAT? D E I N BLUT?»
Aber Anna hätte die Worte auch ins Meer tragen können? Luisa loderte wie tausend Öllampen. Sie zog mit Stefano und dem Zirkus davon. Und man sagt, dass die Flüsse nie mehr so hoch Wasser getragen haben, wie in jenem Jahr, als Anna nur noch weinte. Und immer wieder die Karten legte: «ICH SEHE DAS UNGLÜCK, ABER ICH KANN NICHTS DAGEGEN TUN!»
Die Nachricht kam langsam übers Wasser, da man zu jener Zeit weder Mobiltelefone noch Fernsehen kannte. Die ersten Gerüchte wollten wissen, dass Luisa krank sei. Dann aber kam ein Brief vom Zirkusdirektor. Und der erzählte, dass die junge Frau, die ihrem Gatten in der Messerwerfnummer assistiert und als Zielscheibe immer am Holzbrett gestanden habe, damit Stefano sie mit den geworfenen Dolchen einrahmen konnte? der Brief wusste also, dass der Messerwerfer daneben getroffen und die Klinge Luisa in die Halsschlagader geschleudert habe.
«ICH HABS GESEHEN? ER IST EIN MÖRDER», schrie Anna. Und brach zusammen.
Von jenem Tag an trug sie den schwarzen Trauerrock. Und hat das Haus nie mehr verlassen. Bis zu jenem Mai, als nach 20 Jahren der Zirkus wieder auf die Insel kam?
Mit ihm kam auch Stefano, der Messerwerfer. Diesmal stand eine andere junge Frau am Brett, als plötzlich eine schwarze Gestalt vom Zelteingang her langsam auf den Artisten zuging. Eine eisige Stille herrschte im Zelt.
«ASSASINO!? MÖRDER!», flüsterte Anna. Und stach mit dem kleinen Dolch, mit dem sie auch ihre Hühner schlachtete, Stefano die Halsschlagader durch.
Ein roter See breitete sich langsam auf dem Sägemehl aus: «Wie Mohn im Mai!», lachte Anna auf. Und ging zu Giovanni, dem Ortspolizisten: «Führ mich ab? ich machs eh keine Woche mehr. Das sagen die Karten!»
Sie starb nach drei Tagen im Untersuchungs­gefängnis des Bezirkshauptorts. Und als eine grosse Schar der Insulaner sie später zum Cimitero von Porto Santo Stefano begleitete, sah man am Grab einen steinernen Engel, der eine Tafel trug: «Das Schicksal ist mächtiger als wir?»
Heute aber haben die Menschen das Unglück vergessen. Nur die Mohnblumen bringen ein paar wenigen die Erinnerung zurück.
Und flüstern Annas mohnblütenblutige Geschichte?

Montag, 29. April 2013