Der Lügner

Er war ein Lügner. Einer der ganz grossen Klasse.
Natürlich sah er es anders.
Hans ersetzte das Wort Lügen gerne durch GESCHICHTEN. Er nannte sich selber einen Geschichtenerzähler. Und verdiente damit auch sein Brot.
Hans schrieb Kurzromane, Kolumnen, Storys für Kleinstblätter.
Wenn eine Redaktion mal Stoffnot hatte, hiess es in der Sitzung: «Ruft Hans an. Der lügt uns schnell etwas zusammen!»
Natürlich logen die andern Redaktoren auch. Ebenso die Leitartikelschreiber. Journalisten. Und Reporter. Aber das waren Alltagslügner, wo der Schwindel in der Grauzone lag. Oder wenn wirs mit der Gastronomie vergleichen wollen: Sie verkauften altes Brot als Frischback. Hans aber knetete aus seiner Wortbäckerei zuckrig-cremige, üppig dekorierte Torten.
Wen wunderts, dass alle das Süsse wollten. Auch wenn der Zucker falsch war.
Klar, dass das Privatleben von Hans ebenso mit Geschichten gespickt war.
«Er lügt, dass sich die Balken biegen», grinsten die Freunde, wenn er von seiner Mutter, einer verarmten Habsburger Prinzessin erzählte. Jeder wusste, dass diese aus Herisau stammte und im Frauengefängnis sass. Sie hatte ihren dritten Ehemann ermordet. «Erwürgt», wie es in den Polizei­akten hiess.
Die Verteidigung versuchte mit dem Argument: «Der Mann war ein notorischer Fremdgeher» mildernde Umstände rauszupauken. UMSONST. Die Frau kam ins Loch. Und Hans strich sie und Habsburg aus seinen Geschichten raus.
Später machte er aus dem toten Vater ein politisches Opfer der neuen russischen Linie («Putin hat ihn gehasst! Ständig kamen Drohungen aus dem Kreml...»).
Das war fantasievoller als so ein simpler Mord aus Eifersucht.
Die Lügengeschichten von Hans verkauften sich gut. Einige Male kam er gar auf die Bestsellerliste. Er wurde in TV-Shows und aufs Literatursofa eingeladen. Immer fragten die Moderatoren das Gleiche: «Wie viel an Ihren Geschichten ist wirklich wahr...?»
«TAUSEND PROZENT», log Hans. Und zeigte dabei nicht nur seine Schwäche in Mathematik, sondern auch dieses verschmitzte Lachen, das ihm? UNGELOGEN!? 123 Freundinnen im Synchron­konsum einbrachte.
Als er für Freundin 124 in den Keller ging, um das Sexspielchen mit einer Flasche Wein anzuheizen, schwebte plötzlich seine Mutter in weissem Linnen über der Ablage mit dem Eingemachten. Ihr Haar war ein grauer, verfilzter Wollball? und unter den eiskalten blauen Augen lagen pneuschwarze Ringe wie ein Teich voller Tinte:
«DU BIST DASSELBE SCHWEIN WIE DEIN VATER? NUR LÜGEN!»? flüsterte sie.
«Mutti», hauchte Hans. Er liess den Barolo auf den Zementboden fallen. «MUTTI!»
Die Gestalt kam auf ihn zu, fasste ihn beim Hals? und Hans hatte keine Luft mehr.
Der herbeigerufene Arzt konnte nur noch «EXITUS» feststellen. Und weil er ein Weinkenner war, murmelte er: «Barolo? schade um die Flasche!»
Der Buchverlag von Hans, die Kiwaner, sowie die Guggemuusig «Die lustigen Dattelsattler» zeigten sich in der Todesanzeige «zutiefst bestürzt». Sie schrieben fromme Lügen wie: «Unser aufrichtiger, treuer Freund». Und dann die Tatsache: «... ganz plötzlich durch einen Herzinfarkt von uns abberufen worden!»
HERZINFARKT?!
NIE HÄTTE HANS SEINE GESCHICHTE SO BANAL ENDEN LASSEN.
Deshalb diese hier!

Montag, 15. Oktober 2012