Das Hütchen

Das Hütchen sass auf einer Stange. Na ja? wie Gesslers Hut. Nur viel netter.
Signorina Rosalba hatte einen Traum geschaffen. Das Kleinod war kaum handgross. Es wog 140 Gramm und bestand aus teuerstem, piemontesischem Stroh (eng geflochten), einem Hauch von besticktem Pariser Voile und drei pech­schwarzen Reiherfedern, die von einem kleinen Strassknopf zusammengehalten wurden.
Es gibt Momente, da spürt der Künstler: «DAS IST ES!» Also räumte Signorina Rosalba alle andern Hüte aus der kleinen Vitrine an der Via dei Condotti weg. Und drapierte das neuste Kunstwerk als Solostück auf die kleine Stange.
Die Frauen blieben davor stehen. Seufzten. Und weil sie die Preise von Signorina Rosalba kannten, zogen sie weiter.
Lotte sah das Hütchen an ihrem letzten Urlaubstag in der Vitrine. Sie war gerade mit ihrem Ehemann Albert in Rom. Es war der Fünftage-Trip, der eine zerrüttete Ehe retten sollte: «Gehen wir an die Sonne!», hatte sie ihrem Mann gesagt. «... und dann reden wir über alles.»
Sie hatten sich in den letzten 30 Jahren auseinandergelebt. Alberts Knochen wurden älter? seine Freundinnen jünger. Lotte sagte nichts. Sie hatte diesen Mann gewollt. Und sie war so erzogen worden, dass man Katastrophen schweigend auslebte. Albert wurmte es, dass Lotte den Haushalt bestritt. Und auch seine Extravaganzen berappte.
In der Partei redete Albert laut von den «Scheisskapitalisten», die die Arbeiterklasse aussaugen. Das hinderte ihn nicht daran, sich aus der kapitalistischen Schatulle seiner Frau zu bedienen, um mit seinen Freundinnen auf Reisen zu gehen. SO WAR ES SCHÖN, SOZIALIST ZU SEIN.
Lotte bot die Scheidung an. Er wollte nicht. Es war bequem so, wie es war.
Seine Parteifreunde nannten Lotte «eine Dame». Das war in diesen Kreisen fast schon ein Schimpfwort. Albert hasste Damen. Er wollte Weiber.
Als Albert den Preis des Hütchens hörte, tobte er. «DU SPINNST JA! MIT DIESEM GELD LEBT EINE ARBEITERFAMILIE DREI MONATE LANG!»
«Es ist der ideale Reisehut», lächelte Lotte. «Und es ist mein Geld...»
Sie sprachen daraufhin kaum mehr ein Wort. Auch nicht über die zerrüttete Ehe.
Fünf Monate später erlitt Lotte einen Infarkt.
Man holte Albert aus einer Sitzung. Der Bestattungsbeamte war schon da: «Mein herzlichstes Beileid... so eine wunderbare Frau. Wir wollen ihr das schönste Totenhemd anziehen...»
«Nein», sagte Albert. Er war kreideweiss. «Nein. Kein Totenhemd. Ihr bestes Deux-Pièces. Und ihr schönster Schmuck!»
Lotte wurde in einer dieser Friedhofkammern in einem Blumenmeer hinter Glas ausgestellt. So konnte die Welt von ihr Abschied nehmen. Albert schaute sich seine Frau als Erster an. Die Bestatter hatten gute Arbeit geleistet? doch plötzlich jagte Albert davon. Und kam eine Viertelstunde später mit dem kleinen Hut zurück: «Könnte man vielleicht...»
So trug Lotte das Hütchen auf ihrer letzten Reise.
Als er allen die Hände geschüttelt hatte und nach Hause fuhr, wartete dort Marie-Anne. Sie war eine vielversprechende Jungpolitikerin einer neuen Links-Partei. Und sie trug als ihr persönliches Markenzeichen eine giftgrüne Wollkappe. Grobmaschig.
Albert schaute die etwas verfilzte Wolle auf dem Kopf an. Und dachte an das Hütchen.
«Wie war sie eigentlich?!» wollte Marie-Anne wissen.
«Sie war eine Dame», sagte Albert.

Montag, 29. Oktober 2012