Als Annekäthi das Herz sah, griff eine eisige Hand an ihres.
«Oh Gott», hauchte die alte Jumpfer. Und nahm das zarte Porzellandingerchen in ihre dünnen Finger.
«NICHTS ANFASSEN!», fauchte der junge Verkäufer hinter all dem Ramsch hervor. Der Flohmarktmann würdigte Annekäthi keines Blickes. Sondern begutachtete einen alten Nachttopf mit Sprung.
Annekäthi schaute zum Herz, wie der Pudel zum Hundebiscuit. Sie erkannte die fein geschwungenen goldenen Buchstaben sofort wieder: «Für immer dein!»
«Jo verdelli!», entfuhr es dem ältlichen Fräulein im schwarzen, etwas abgelaufenen Deuxpièces.
«Ist was?», schaute der Ramschhändler nun von seinem Nachthafen auf.
«S isch nyt!», entschuldigte sich Annekäthi.
Schon als kleines Mädchen wurde ihr für alles und jedes, was sie tat, ein schlechtes Gewissen eingeimpft. «Annekäthi? das macht me nit!» kam wie das Amen in der Kirche. Kein Wunder, dass die Leute bald einmal die Nase rümpften: «Ja, ja das Annekäthi ist wohl eine gute Partie. Aber eigentlich eine verschrobene Schachtel!»
Als die anderen Mädchen ihrer Gymnasialklasse sich bei Bickels Tanzschule anmeldeten, bekam Annekäthi Solounterricht. Ein älteres Fräulein Wackernagel lehrte das junge Mädchen den Tangoschritt. Die Klassenkameradinnen schwärmten von Hans , der schon einen Schnurrbart habe, oder Max, der schon mal den Arm beim Foxtrott spazieren liess.
BEI ANNEKÄTHI SPAZIERTE GAR NICHTS. Und der zarte Damenbart von Fräulein Wackernagel war beim Tango kein Ersatz.
Sie studierte Soziologie und lernte das Schlechte dieser Welt kennen. Aber keinen Mann.
Um ehrlich zu sein: Männer machten einen weiten Bogen. Und selbst das ansehnliche Vermögen, das Annekäthi einmal erben sollte, brachte bloss Einsamkeit. GELD OHNE HERZ IST WIE GOLD OHNE GLANZ.
Dann kam er.
Annekäthi lernte ihn im Taxi kennen, als es sich vom Bahnhof heimfahren liess.
Er hatte spanisches Blut. Augen wie glühende Eierkohlen. Und bei Josés Tango spürte Annekäthi endlich, was es bei Fräulein Wackernagel vermisst hatte? UND DAS LAG NICHT NUR IM SCHRITT.
Es schwebte im siebten Himmel. Die Eltern aber machten ihr die Hölle heiss: «Der hats nur auf dein Geld abgesehen? so einen nimmt man nicht!»
Sie fragte ihn verunsichert: «LIEBST DU MICH?!» Er sagte nichts. Sondern drückte seinen Mund auf ihren. Wie hätte Annekäthi da nochmals nachfragen können.
Es war an einem Freitag, als der Detektiv, den die Alten engagiert hatten, bekannt gab: «Herr José ist Vater von fünf Mädchen. Und seit acht Jahren verheiratet!»
Annekäthi schrieb ihm einen Abschiedsbrief. Und er schickte ihr ein Päckchen: «PARDON.»
Im Päckchen lag ein Herz, fein und zerbrechlich wie dasjenige von Annekäthi. Darauf in Gold: «Für immer dein!»
Annekäthi wollte es aufbewahren. Sie wusste, dass es vermutlich das letzte Herz war, das ihr jemand schenken würde.
«Das tut man nicht!», zischten die Eltern. Und gaben es an die Blaukreuz-Tombola.
Nach 65 Jahren klopfte es ihr nun auf diesem Flohmarkt wieder über den Weg.
«Was kostet das Herz?», fragte sie den jungen Verkäufer.
Der: «22 Franken. Es ist noch ganz...»
«20!? bot Annekäthi.
Jetzt schaute sie der Händler erstmals an: «Um ein Herz feilscht man nicht!»
«PARDON!», sagte Annekäthi.
Und ging weiter.
Das Herz
Montag, 3. September 2012