Das Geheimnis der Hyazinthe

Als Rose das Hyazinthen-Glas aus den Händen fiel, zersplitterte die alte, hauchdünne Vase in ­tausend violette Scherben.
Der bereits etwas lahme Strunk mit den vielen rosigen Blüten lag geköpft am Boden.
Rose hatte schon als Kind die Hyazinthen als die schönsten aller Blumen eingestuft.
EINE ZAUBERBLUME.
Beeinflusst wurde Roses Urteil von den geheimnisvollen Glitzerhüten mit den Goldsternen. Und natürlich durch ihre Grossmutter. Ima hatte für sie die Geschichte von der Hyazinthe und dem Zauberhut erfunden.
Ima hielt sich sechs Hyazinthen-Gläser. Sie stellte sie in die Stubenzwischenfenster. Und für die kleine Rose hatten die dunklen Vasen mit den Funkelzylindern etwas Magisches? sechs Zauberer in Reih und Glied.
«Es war einmal eine hässliche, dicke Zwiebel...», so begann Ima die Hyazinthen-Zaubergeschichte. «Die Zwiebel war traurig, weil niemand sie beachtete. Und die Köchin immer mit ihrem Messer auf sie losging ...»
Rose konnte sich sehr gut in die Zwiebel einfühlen. Sie war auch ein Pummelchen. Die Zwiebel hatte somit Roses grosses Mitgefühl ...
«... eines Tages, als die Zwiebel wieder weinte, weil sie so hässlich war, stand plötzlich ein ­Zauberer vor ihr. Er versprach, aus der Zwiebel eine Schönheit zu machen ? mithilfe seines Zauberhuts!»
Diesen Teil der Geschichte mochte Rose am ­liebsten: Der Zauberer verwandelte seinen ­langen Mantel mit dem hohen Kragen in eine blau schimmernde Vase, dünn wie ein Laubblatt. Die Zwiebel musste auf den Glasmantel springen und wurde mit dem Zauberhut zugedeckt!
Ima schaute Rose nun mahnend an: «... und nie durfte sie den Hut wegnehmen, sonst wäre der Zauber nämlich gebrochen gewesen!» NA JA. Auch in den Märchen gab es immer Auflagen.
Einmal war Roses Neugier zu gross gewesen. Also zupfte sie den Zylinder von der Zwiebel weg ? und sah etwas Grünliches, Hässliches.
«... nach einiger Zeit aber begann sich der Zauberhut magisch zu heben», erzählte Ima und beendete die Hyazinthen-Geschichte. «... und aus der Zwiebel war die schönste aller Blumen geworden!» Rose erinnerte sich an jenen schrecklichen Tag, als sie die sechs Zylinder von den Vasen nehmen durfte. Fünf herrliche Blumen ? nur die sechste war ein gelblicher, welker Strunk.
Ima hatte Rose lange angeschaut. Die Kleine hatte zu weinen begonnen. Da lächelte die ­Grossmutter: «Das Leben ist ein Geheimnis, Rose. Man darf es nie zu sehr erforschen ...»
Als Ima starb, war Rose eine junge Frau ? leider war aus ihr nie eine Blume geworden. Aber im Andenken an ihre Grossmutter liess sie immer eine Zwiebel unter dem Zauberhut aufblühen. So auch dieses Jahr im Altenheim, Zimmer 322. Als sie am Morgen sah, wie die rosige Blüte für das Leben einfach zu schwer wurde und einknickte, da wollte Rose sie aus der Vase nehmen. Sie spürte einen warmen Hauch ? und fühlte sich plötzlich zart, wunderschön. So wie die Blume hier.
Da fiel ihr das Glas aus der Hand.
Als Zimmer 322 geräumt wurde, fand man einen kleinen, funkelnden Kartonzylinder hinter den Heizungsröhren.
«Ist wie Zauberhut», lachte Svetla, die polnische Putzerin.
Und warf ihn in den Abfallsack.
Gottlob haben wir hier zumindest noch seine Geschichte retten können.

Mittwoch, 1. Januar 2014