Das Engelchen

Max hob den Spazierstock. Der silberne Griff? ein springender Jaguar? blitzte in der Sonne auf.
Dann schlug er zu.
Drei Mal. Fünf Mal. Zehn Mal.
Er keuchte.
Schliesslich liess er den Stock sinken. Dieser sah aus wie ein durchgekauter Zahnstocher. Der Jaguar war schon beim dritten Schlag abgebrochen. Zitternd griff Max zum Handy.
Seine Gattin hiess Eva. Er nannte sie nur «Engelchen». Ihre Freunde meinten, das sei der Witz des Jahrhunderts. Denn Eva war ein Satansbraten. Und brachte das Teuflische im Menschen zum Vorschein.
Als Kind schon genoss sie es, Intrigen zu spinnen. Sie brachte ihre besten Freundinnen hintereinander. Alles nur mit harmlosen Bemerkungen wie: «Röschen hat gestern etwas Seltsames über dich gesagt...» Oder: «Ist es möglich, dass ich Erna am Wochenende mit deinem Gustav beim Knutschen gesehen habe...?»
Dabei hatte Eva dieses sanfte Engelsgesicht: meerblaue Augen. Langes Madonnenhaar. Milchhaut. Bei jedem Krippenspiel wäre sie spielend als Maria durchgegangen.
Als Kind war sie eifersüchtig auf Waldi, den Familienhund. Er bekam viel zu viel Beachtung.
«Waldi knurrt immer andere Dackel an», jammerte Eva, wenn sie von der Hundeanlage zurückkam. «Gestern hat er eine Frau in die Waden gebissen...» Eines Tages sass Eva heulend in der Stube: «Der Hund hat mich angefallen...» Der Vater liess Waldi einschläfern. Eva lächelte zufrieden. Die Mutter schaute ihre Tochter zum ersten Mal etwas argwöhnisch an.
Als Engelchen dann Max an einem Betriebsfest kennenlernte, war dieser noch Familienvater. Vergötterte seine Frau Inge. Und liebte seine drei Buben über alles.
Das Engelchen wusste, was sie wollte: Sie dichtete Inge ein Verhältnis mit Nachbar Huber an. Und stichelte bei Max. «Ist dir an deinen Buben nichts aufgefallen? Sie bewegen sich alle drei wie Herr Huber...»
Inge liess sich scheiden. «Vielleicht ist es besser so», Eva tätschelte tröstend die Hand von Max.
Ein Jahr danach heirateten sie.
Bald hatte Max keinen Freundeskreis mehr. Das Engelchen hatte seine sozialen Kontakte? wie Seifenblasen? platzen lassen.
Weil sie sich nie für Politik interessiert hatte und ihr somit das wunderbare Parkett für Intrigen fehlte, spann Eva diese im Privatleben. Und beim Personal. Die Haushälterinnen wechselten schneller als die Börsenkurse. Nur der Gärtner harrte stoisch aus? und dies, obwohl sie ihm schon Sabotage beim Rasenmäher und den Diebstahl einer Gartenschaufel angedichtet hatte. Max wollte von solchen Sachen nichts wissen. Es schien, als würde er in diesem Punkt gegen Engelchens Intrigen immun sein. Ja, er verstand sich mit seinem Gärtner so gut, dass sie einander duzten.? Die Idee mit dem Spazierstock war dann auch vom Gärtner gekommen. Es ist ja immer der Gärtner...
Keuchend vor Erregung hat Max nach dem letzten Schlag Hans angerufen: «ZEHN MAL... Der Gehstock ist allerdings hin!»
«Das ist schon der siebte dieses Jahr», meldete sich die Handy-Stimme. «... und was ist mit dem Hackstock?!»? «Hackstock? Ach so? du hast doch gesagt, ich solle ihn Eva nennen. Der hat nur ein paar Kratzer abgekriegt.»
Aus dem Garten hörte man nun eine quengelnde Stimme: «Max... MAAAX... mit wem telefonierst du schon wieder?!... Komm mal hierher... ich glaube fast, unser Gärtner hat wieder einmal den Rasen viel zu stark gedüngt... das macht er absichtlich und...»
«Ja, Engelchen», sagte Max ruhig.

Montag, 26. September 2011