Blaue Donau in Alassio

Die Saison war ausgelutscht. Viele Badeanstalten hatten bereits geschlossen.
Die Kellner zeigten das müde Gesicht eines erloschenen Sommers. Sie warteten auf November. Dann war endgültig Schluss. Und sie konnten auch einen Happen Ferien geniessen. Last Minute nach Teneriffa.
DIE AUSGELATSCHTEN SERVICE-FÜSSE IM SALZWASSER BADEN!
Louise liebte diesen Saisonschluss in Alassio. Immer Ende September reiste sie an. Ihr Gepäck: EIN KOFFER MIT ERINNERUNGEN.
Wenn der Cameriere sich über die leichte Bagage wunderte, lächelte sie nur:
«Ich brauche nichts? ich habe die Vergangenheit in der Reisetasche!»
51 Jahre hatte sie den Sommerurlaub mit Hans in Alassio verbracht? erstmals nach dem Krieg. Als die Grenzen sich wieder öffneten. UND ITALIEN FÜR DIE EIDGENOSSEN DAS LAND DER SONNIGEN SEHNSÜCHTE WAR.
Sie fuhren schon damals ins Grand Hotel. Es lag am Schluss des Orts. Ihr Balkon ging aufs Meer hinaus? Wellenrauschen garantiert.
Dazu VOLLPENSION. Und einmal pro Woche: MUNCHNERISCH GALADINNER MIT WURSTI UND KRAUTEL.
Nach dem Abendessen gingen die beiden tanzen. Gleich neben dem Hotel lag das «Caffè Sole». Mit Samba-Rondell. Und Dreimann-Orchester.
Giorgio, der Mann an der Gitarre und mit der Stimme wie eine Pfirsichhaut, zwinkerte Anna jeweils zu. Dann spielte er «Die schöne blaue Donau». UND DIES AM MITTELMEER.
Egal. Sie walzerte mit Hans Abend für Abend in den siebten Himmel.
Giorgio spielte Jahrzehnte pausenlos. Seine Stimme blieb samten? nur das Repertoire änderte sich: «Marina... Marina» und so.
Die Donau rauschte nur noch selten an. Doch wenn Giorgio die helvetische Anna am ersten Abend sah: AUGENZWINKERN. UND SCHON FLOSS DER BLAUE FLUSS IM DREIVIERTELTAKT.
Ein einziges Mal hatte Giorgio ihr heimlich ein Zettelchen zugesteckt. Sie ging zum Rendezvous. Natürlich nur, um ihm zu sagen, dass so etwas ganz unmöglich sei.
ES WURDE DOCH MÖGLICH.
Und abends wieder: BLAUE DONAU MIT HANS.
Ihr Mann war Gentleman der alten Schule: Verbeugung beim Engagieren: «Darf ich bitten...»
Und danach: «Danke für den Tanz.»
Als Hans nicht mehr war, machte Anna fünf Jahre Alassio-Pause. Dann kam sie wieder. Alleine. Nur mit den Erinnerungen. Viel hatte sich nicht geändert. Giorgio hatte einem bulgarischen «Wladimir» Platz gemacht. Das Repertoire war dasselbe. Die Pfirsichstimme auch. Ebenfalls das Zwinkern, wenn Anna (nun 88), sich an ein Tischchen setzte.
Ende Saison tanzten nur noch wenige Paare. Meistens weisshaarige Pensionierte aus dem wieder geeinten Deutschland. Oder auch mal zwei alte Frauen aus dem Ort. Das Ganze hatte etwas von TANZABEND IM ALTENHEIM.
Es war an einem Montag, als Anna wie immer an ihrem (allerdings dritten) FERNET nippte. Sie spürte den warmen Wind eines überhitzten Septemberabends auf den Wangen. Da hörte sie die Stimme von Hans: «Darf ich bitten...»
Später erzählte Wladimir den Männern vom Rettungsdienst: «... armes Frau alleine auf Podium... ist im Kreise gedreht... hat gelächelt wie kleines Mädchen... dann?danke? gesagt... und war aus...»
Als die Ambulanza Anna abtransportierte, war sie aus dieser Welt weggetanzt. Hoffen wir: in den siebten Himmel...
«Weiter machen!»? befahl Wladimir seinen Musikern. Dann NOTFALLHORN. Blaulicht. Und «Die blaue Donau».
Letzteres: reiner Zufall.
Aber? das muss man sagen? ein taktvoller Schluss.

Montag, 17. Oktober 2011