Bergwandern

ER HASSTE DIE BERGE.
Seit 37 Jahren fuhr er mit Hanne-Trudy hin.
Einmal hatte er in einem mutigen Moment auf­begehrt: «Könnten wir vielleicht dieses Jahr ans Meer. Ich möchte zumindest e i n m a l in meinem Leben den Horizont gesehen haben?»
«OTTO!»? sie schaute ihn verärgert an, «du weisst, dass ich bei zu viel Jod nicht atmen kann. Und ein weiter Horizont bringt nur Kopfweh. WAS HAST DU GEGEN ADELBODEN?!»
Er hasste die tippelnden Menschen in ihren Bergsocken-Uniformen. Er hasste ihre Rucksäcke. Die Wanderstöcke. Und diese schrecklichen Sonnenkäppchen, die stets an umgestülpte Toastwärmer erinnerten.
ER HASSTE HANNE-TRUDY.
«Jawohl, meine Liebe!»? damit war die Sache gegessen. Und die Wut geblieben.
Natürlich musste e r den schrecklichen Kunststoff-Rucksack in die Höhen schleppen. Dazu ihre Kamera. Sie war Hobbyfotografin (Blumenmotive). Er buckelte auch den Müesliriegel. Den Instanteistee. Und die Schachtel mit den ­Glyzerintabletten, falls die Angina Pectoris Hanne-Trudy ins Flattern brachte.
An diesem Morgen weigerte er sich drei standhafte Minuten lang, dieses dämliche Käppi in den Eierschalenfarben aufzustülpen. Er hatte sich im Dorfladen ein himmelblaues Stirnband mit maschinengesticktem Enzian als etwas frohere Alternative erstanden. Das wollte er nun durch- und überziehen.
«OTTO!»
Ihr Ton war eisig wie die letzten Gletscherstreifen des Wildstrubels.
Es war Hanne-Trudy, die wusste, wie man gut behütet an den Berg ging. Also hütete er sich, etwas zu sagen. Setzte den Toastwärmer auf. Vier Stunden waren sie gewandert? er mit Plattfüssen, die höllisch schmerzten. Aber das interessierte Hanne-Trudy seit 37 Jahren keine Sekunde («Du bist doch kein Beckenrandschwimmer, Otto!»). Nun sassen sie auf einer nebelfeuchten Bank. Er spürte, wie die Nässe seinem Ischiasnerv gute Nahrung gab. Und: «IST DAS NICHT EIN WUNDERBARER AUSBLICK, OTTO!»
Er sah nur graue Schwaden. Graue Wolken. Grauen Himmel. DAS GRAUEN IN GLOBO.
«Ja, Hanne-Trudy!»
Seine Gattin in dieser elastischen Sporthose, die ihren Hintern wie eine überhängende Fluh zur Geltung brachte, bückte sich nach einem Männertreu, das im Regenwind kümmerlich zitterte: «DIE SIND GESCHÜTZT, OTTO!»
Er sagte nichts. Er fand, dass auch Ehemänner unter Schutz gestellt werden müssten. Aber wen kümmerte schon das Leid eines gepeinigten Plattfusswanderers?
«G E S C H Ü T Z T, OTTO!»
«Ja, Hanne-Trudy.»
Sie verlangte nach dem Fotoapparat. Und ging vor dem Männertreu ächzend in die Hocke.
Hanne-Trudy liebte Langzeiteinstellungen. Hielt beim Abdrücken immer einige Sekunden die Luft an? auch jetzt. Die Fluh in der Berghose bebte. Und plötzlich entflammte ihr Kopf zum mohn­roten Ball. Es war der einzige Farbmoment im grauen Nebelnichts.
«Die Pillen!», keuchte Hanne-Trudy. «RASCH. Das Glyzerin?»
Im Zeitlupentempo öffnete Otto den Rucksack. Er schälte umständlich den Eistee hervor. Dann fingerte er lange an den Müesliriegeln?
«MACH SCHON? DU ARSCH!»? Hanne-Trudys Stimme tönte schrill. Dann bröckelte sie ab.
«ICH FINDE DIE PILLEN NICHT!», bedauerte Otto lächelnd.
Als die alarmierte Bergwache aufkreuzte, war Hanne-Trudy bereits hinüber.
«Herzliches Beileid», sagten die Männer.
«Wunderbare Aussicht!»? lächelte Otto.
Die Sanitäter schauten verwundert ins Nebel­verhangene. Alles: grau in grau.
Nur auf dem Stirnband des Witwers funkelte das satte Blau des Enzians?

Montag, 10. Juni 2013