Beauty-Queen

Daisy stach zu. Wieder. Immer wieder.
Ihre Mutter schrie schrill auf.
Die Nachbarn pochten an die verschlossene Türe.
Dann hörte man die Polizeisirenen.
Das junge Mädchen sass am Küchentisch. Es hielt das spitze Kartoffelmesser noch immer in der Hand. Die Mutter lag vornübergebeugt auf dem Tisch. Ihre Augen glotzten offen in das Gemüsebecken.
Drin lagen Kartoffeln. Geschält. Das weisse Fleisch des Gemüses wurde durch ein paar Blutstropfen rosig gefärbt.
Daisy stierte auf das blutige Messer. Dann auf die Kartoffeln. Aber nie zur Mutter.
Daisy war eben mal 16, als sie ihre Mutter ermordete.
Die beiden hatten in Miami gewohnt. Miami-Beach. Nicht vorne am Ocean-Drive, wo die Post abging. Nein. Sechs Strassenreihen dahinter. Dort, wo die Häuser hölzern, baufälliger und etwas verwitterter waren.
Das Lebensziel von Daisys Mutter war, mit ihrer Tochter Schlagzeilen zu machen. Und Strasse um Strasse nach vorne aufzurücken. Bis zur Collins-Avenue. In ihrem Eifer übersah sie, dass hier längst keine Menschen mehr wohnten. Nur Gäste in Hotels. Die Paläste, deren teuerste Fenster auf den vergammelten Strand hinausgingen, wurden alle vier Jahre renoviert. Damit neue Gäste kamen.
Vis-à-vis (Reihe 2) waren die Wohnungen zu T-Shirt-Läden geworden. Zu Sushi-Restaurants.
Oder Tattoo-Stuben. Abhang-Buden eben. Die einzigen, die hier wohnten, waren Hausmeister.
Oder kleine Koks-Dealer. Und die logierten im Keller. Fensterlos. Dunkel.
Die Sonne von Miami strahlt nie bis ganz nach unten...
Daisy war das schönste Kind der 6. Reihe. Schon als Dreijährige wurde sie von der Mutter gestylt.
Das blonde Haar noch heller geblondet. Und die Augenlider mit Glimmer übergossen.
Mit vier Jahren war Daisy erstmals Beauty-Queen in ihrer Kategorie. Mit fünf Jahren war sie auf Seite 3? im Bennetton-Pulli für Kindermode. Mit neun Jahren wurde sie Miss Miami junior (zweite Seite im Lokalblatt). Als Zwölfjährige sah sie aus wie 16. Und hatte erstmals Silikon im Busen.
Natürlich erforderte die Beauty-Karriere Opfer: keine Freundinnen? dafür Ballett- und Yoga-Stunden.
Gesangs- und Pantomime-Unterricht (das war für die Broadway-Laufbahn gedacht). Und Kartoffeldiät. Immer Kartoffeldiät.
Die Mutter fuhr sie täglich ins Fitness-Studio.
Dann zur Kosmetikerin? eine Eislaufmutti der Beauty-Art, quasi.
Männer pfiffen Daisy nach. Sie pfiffen umsonst.
Denn Mutti pfiff sie zurück.
Daisy ergab sich in alles. Strahlte in Kameras und Fotolinsen? ass täglich nur Kartoffeln. Und die Menschen sahen ein Beauty-Püppchen, das so kalt wirkte wie Barbie.
Als Daisy sich in ihren Fitness-Trainer verliebte, war die Katastrophe vorprogrammiert.
Sie schwänzte Ballett. Und baute Fitness auf. Die Mutter kam dahinter. RIESENSZENE. LAUTE VORWÜRFE (Mutti: «Ich opfere mich nicht auf, damit meine Tochter eine Liebelei mit einem Mukkitrimmer beginnt!». Daisy: «ICH WILL ENDLICH MEIN EIGENES LEBEN!»).
Als Daisy an jenem Morgen beobachtete, wie ihre Mutter die Kartoffeln schälte, da stach sie zu.
Wieder. Und immer wieder.
Wortlos ging sie mit den Polizisten.
Die Medien schrien Schlagzeilen : «BEAUTYQUEEN DREHT DURCH... MACHT KARTOFFELDIÄT AGGRESSIV?»
Daisy war endlich auf der Frontseite. Mutti wäre zufrieden gewesen.

Montag, 20. Februar 2012