Ausländer

«Nimm ein Taxi!»? das war Walter.
Aber Erna dachte nicht im Traum daran, so viel Geld aus dem Fenster zu werfen. Sie war 82. Doch sie war noch gut auf den Beinen. Also fuhr sie mit der Zahnradbahn von der Rigi nach Vitznau. Dann mit dem Schiff nach Luzern. Von dort gings bequem mit dem Zug nach Basel.
Nun ja? BEQUEM WAR ANDERS. Sie fuhr 2. Klasse. Und diese Klasse war bumsvoll. Doch Erna sah nicht ein, weshalb sie 1. Klasse bezahlen sollte, wenn sie mit der 2. genauso schnell ankam.
Erna war sparsam. FAST GEIZIG. Ihre Enkel sollten mal einen schönen Batzen erben. FAMILIENTRADITION!
Sie konnte ihren Sohn Max nicht verstehen, wie er sein Geld an diese brasilianische Tussi hängen konnte. EINE AUSLÄNDERIN! Und dabei konnte sie nicht einmal richtig Deutsch.
«So lernen die Kleinen Portugiesisch!», hatte Max gelacht.
«Dummes Zeug! Schweizer Grosskinder hatten mit ihrer Oma einen anständigen Dialekt zu reden. Und nicht dieses Geplapper, das wie ratternde Nähmaschinen tönte...
Sie musste widerwillig zugeben, dass Fernanda eine gute Mutter war. Eine brave Ehefrau. Und? na ja? auch eine passable Schwiegertochter.
Als Erna mit dieser miesen Grippe im Bett lag, blieb Fernanda zwei Wochen an ihrer Seite. Sie löffelte ihr seltsame Tränklein ein. Und wusch sie mit Essig. Erna war zu schwach, um zu protestieren.
Nach den 14 Tagen überlegte sie sich, ob sie Fer­nanda ihren kleinen Brillantring schenken sollte. Sie hatte gesehen, wie die Schwiegertochter immer wieder einen Blick darauf geworfen hatte. Aber? das hatte ja noch Zeit, bis zum Grab...
Erna hievte ihre zwei grossen Tragtaschen in den Waggon. Ein junger Mann nahm ihr lächelnd eine ab. Er hatte herrliche Augen. Braun wie Mokka. Und er hatte ein Lächeln, das Erna mit einem Knurren quittierte: «Den zweiten Sack hier auf die Ablage, bitte!»
Als er gegangen war, überlegte sie, ob sie dem jungen Ausländer nicht hätte etwas geben sollen. 50 Centimes vielleicht. Doch als dann der Billettkontrolleur kam, hatte sie andere Probleme: Das Portemonnaie war weg. «Er hatte braune Augen...», so gab sie bei der Polizei das Signalement durch. «Ein Ausländer eben...»
Die Uniformierten wollten wissen, wie sie sicher sein könne, dass es ein Ausländer war.
«So etwas sehe ich», knurrte sie. Und: «Ein junger Schweizer hilft einer alten Frau nicht mit dem Gepäck!»
Ihre Freundinnen tropften vor zuckersüsser Schaden­freude: «Ach Erna, wo du doch immer so vernünftig bist... man weiss doch, wie diese Ausländer sind!»
Erna dachte an ihre Schwiegertochter. Und sagte nichts. Ihre alte Welt war eh aus dem Fugen geraten? mit und ohne Ausländer.
Vier Tage später rief Frau Hämmerli von der Rigi an. Sie war die Zugehfrau.
«Hallo Frau Iselin... brauchen Sie das Portemonnaie nicht? Es sind doch alle Karten drin und...»
Sie hatte es auf der Chalet-Veranda liegen gelassen.
«Danke Frau Hämmerli», hustete Erna in den Hörer.
Dann sass sie eine Minute still auf ihrem Stuhl. Schliesslich wählte sie die Telefonnummer ihrer Schwiegertochter: «Fernanda?? Ja, ja ? es geht mir gut. Komm vorbei. Ich möchte dir etwas schenken.»

Montag, 27. August 2012