Alles «o.k.»

Draussen wollte es nicht dunkel werden. Trudy schaute aus dem Fenster. Dann auf die Dose mit den Tabletten.
Ein paar Vögel zwitscherten geschäftehubrig herum. Eigentlich war schon längst Nestgehzeit.
Trudy hörte den Amseln zu. Dann humpelte sie auf die Terrasse. Und füllte das hölzerne Vogelhäuschen mit ein paar Körnern.
Trudys Beine schmerzten höllisch. Ihr gebeugter Rücken brannte. Und ihr Atem pfiff leise wie dieser Dampfkochtopf, den ihr Albert vor 50 Jahren auf Weihnachten unter den Baum gelegt hatte. Sie hatte auf einen Pelzkragen gehofft.
«Ein Geschenk mit Pfiff», hatte Albi gewitzelt. Sie war enttäuscht gewesen. Und als sie sich in den besseren Jahren endlich diesen heiss ersehnten Nerz hätte leisten können, hatten ihre Kinder aufgeschrien: «MAN TÖTET KEINE TIERE... WIR WOLLEN KEINE MÖRDERIN ALS MUTTER!»
Trudy betrachtete das Döschen mit dem Pillenmix, den ihr eine Sterbehilfeorganisation hatte zukommen lassen.
Unzählige Briefe waren vor dem Pillenempfang hin und her gegangen. Unterschriften hatte sie leisten müssen. Die Kinder wussten nichts davon.
Einmal pro Tag schaute eine der vier Töchter bei ihr vorbei. Und Trudy wusste, dass sie per SMS das Codewort «alles o.k.» oder «eher schwächer» untereinander weitergaben. Sie kam sich manchmal vor wie eine schlecht bewertete Aktie vor dem endgültigen Absturz.
Trudy war jetzt 92 Jahre alt. Nach statistischem Ermessen wäre sie schon lange tot. Wie immer war auf die Statistik kein Verlass.
«Die Medizin hat in den letzten 30 Jahren Meilenschritte vorwärts gemacht», hatte ihr Arzt gestrahlt. «Sie können spielend 100 werden!»
Trudy wollte nicht 100 werden. Und ihr Körper auch nicht. Sie hatten beide genug. Und ein gutes Leben gehabt? auch ohne Nerzkragen.
Nun war alles einfach nur noch mühsam. Schmerzhaft. Und erniedrigend.
«Man müsste einfach auf einen Knopf drücken können», hatte sie am letzten Muttertag zu ihren Töchtern gesagt. «SCHLUSS. AUS. DANKE? DAS WARS.» «Es ist so demütitgend von andern abhängig zu sein!»
«ABER MAMMA», hatten die aufgeschrien, «so, wie du alt werden kannst, ist es doch schön...»
Trudy schaute jeder in die Augen: «Ein Greis, der sagt, dass das Alter schön sei, hat schon als junger Mann gelogen!»
Natürlich war für die alten vieles besser als früher. Alte sahen heute aus wie diese frisch gereinigten Blousen im Secondhand-Shop. Propper. Aber nicht mehr neu.
Man trimmte ihre Muskelstränge im Seniorenturnen. Klappernde Gebisse waren out? Implantate «in». Die sassen zwar fest. Erinnerten aber immer wieder an ein gekacheltes Badezimmer.
Mit 70? so erinnert sich Trudy? war die Grossmutter so runzlig gewesen wie ein vergessener Apfel. Dann hatte die Natur den Anstand, sie zu sich und unter die Erde zu holen.
Heute?? «Es gibt kein Alter!», hatte Frau Merz am Seniorennachmittag eine allgemeine Plattitüde als Wort zum Tag gepredigt. «Man ist einfach so alt, wie man sich fühlt... UND WIR ALLE HIER FÜHLEN UNS JUNG. UND FRÖHLICH!»
Trudy fühlte sich 150 Jahre alt.
«Es ist eine Mutfrage», meinte sie zu sich selber. Und schloss die Fenster. Dann nahm sie das Döschen mit den Pillen in ihre Hände.
Sie erwachte morgens um acht Uhr. Die Amseln pfiffen vor ihrem Fenster. Trudy lächelte. Und legte nochmals Futter nach.
Auf dem Handy der Töchter piepste das SMS: «ALLES O.K.!»

Montag, 25. Juli 2011