Alem schaute die Alte, die sich auf den Rollator stützte, tadelnd an: «Ist Wind hier... nix gut für Frau... sonst tot.» Rosa grinste. Ihr schrumpeliger, zahnloser Mund sah aus wie eine Dörrpflaume:
«... in meinem Alter ist der Tod ein lieber Freund, Alem. Und im Übrigen ist hier mehr los als in der Memory-Gruppe.» Rosa hasste diese Spiele mit den Karten.
«Du trainierst so dein Gedächtnis, Omi», hatte Enkel Ralf ihr die Therapie-Stunde schmackhaft machen wollen. Sie kniff den Jungen in die Wange: «In meinem Alter brauchst du kein Gedächtnis mehr. Da bist du froh, wenn du all das Miese vergisst!»
Rosa rollte jeden Morgen zum Eingang des Altersheims. Hier war ein hektisches Kommen und Gehen. Autos fuhren vor. Leute kamen zu Besuch. Hin und wieder brachte der riesige Transporter auch einen neuen Mitbewohner? meistens wenn ein paar Tage vorher die schwarze Bestattungs-Limousine von Nagel und Co. mit einem der Heiminsassen abgefahren war.
Nagel und Co. fuhr nie beim Hauptportal vor. Sondern aus Gründen der Pietät beim Hintereingang in der Nebenstrasse, wo auch die schmutzige Wäsche und der Abfall abgeholt wurden.
Alem erschien nun mit einer Wolldecke: «Nimm das Frau... ist kalt bei Tür!» Rosa liess sich brummelnd die Decke über die Schulter legen. Und war zufrieden. Alem deckte sie jeden Morgen mit einem Wolltuch zu. Es war ein Ritual zwischen den beiden.
Die Frau mochte Alem. Der schwarze Bursche war aus Kenia in die Schweiz geflüchtet. Er arbeitete als Hilfspfleger im Altenheim. Und betete jeden Tag, dass er nicht wieder zurückgeschickt würde: «ICH NIX ZURÜCK...», hatte er Rosa einmal erklärt. «Ich lieber tot, als nochmals dort...»
Vor drei Jahren hatte Alem sie im Advent mit einem geschnitzten Holzbäumchen überrascht. Vier Kerzen steckten an den groben Ästen: «Ist Adventlichtbaum... so hat alte Frau warm Kerzenschein in Zimmer...»
Sie fand die Holztanne Horror pur. Freute sich aber trotzdem. Und wollte dem Jungen etwas Geld zustecken.
Alem hatte beleidigt abgewehrt: «In unserm Land junges Leut lieben alt Mensch... wollen machen Freud für sie!» So zündete Rosa also auch unter dem Jahr immer mal wieder eine Kerze am Horrorbaum an. Und freute sich am warmen Licht.
Eines Morgens, als Rosa wieder zum Haupteingang gerollt war, spürte sie, dass es sie fror. Es war niemand da, der ihr eine Decke über die Schulter legte. «Wo ist Alem?», fragte sie die Heimleiterin. Frau Stucki nahm Rosas Hand: «Er hätte am ersten Adventssonntag in seine Heimat zurückkehren sollen... aber als sie ihn abholen wollten, war seine Kammer leer...» Rosa war nun sehr still in dieser Vorweihnachtszeit. Sie wurde krank. Hatte Fieber. Und kam auf die Bettenstation. «Sie hat immer etwas von einem Adventbaum gefaselt...» erzählte die Nachtschwester beim Rapport.
Am Heiligen Abend legte Heimleiterin Stucki eine Ansichtskarte aufs Rosas Bett. «Von Alem? er ist in London», flüsterte sie. Und: «Schauen Sie nur, was er gezeichnet hat!» Da war ein dicker, schräger Weihnachtsbaum. Mit vier Kerzen.
Rosa lächelte.
Zwei Wochen später entsorgte der städtische Kehrichtwagen die Postkarte und den Holzbaum. Nagel und Co. war schon drei Tage vorher am Hintereingang vorgefahren.
Adventbaum
Montag, 10. Dezember 2012