Die bessere Zeit

Lorchen schaute durch den Operngucker.

Dann schüttelte sie energisch ihre frisch gelegten Löckchen, sodass sich zwei davon sofort in lausige Strähnen auflösten: «Erwin – es ist nicht mehr wie früher!»

Erwin tätschelte die magere Hand mit den braunen Altersflecken: «Ja Tantchen. Anders. Aber spannend. Und wunderbar…»

Er drückte sie kurz an sich: «Ich finde es jedenfalls grossartig, mit dir in der Staatsoper sitzen zu dürfen und…»

«Schweig!», sagte die Tante gerührt.

Erwin war ihr Neffe. Er kümmerte sich rührend um sie. Und wenn ihre Kinder auf den Vorwurf hin «Erich hat immer Zeit für mich» auch gallig ­reagierten («diese Schwuchtel hat ja auch keine andere Verpflichtungen!»), so liess sie sich in ihren Gefühlen nicht beirren: «So einen Sohn wünscht sich jede Mutter im Alter – schwul hin oder her!»

«Solche Söhne sind die beste Altersversicherung.» Das hatte Nelly ihr anvertraut. Nelly hatte die Sache allerdings erst geschnallt, als sie auf dem PC ihres Huberts beim Link «Männertreff – Da geht die Post ab» das Lämpchen mit «37 neue Nachrichten» orgiastisch blinken sah…

Lore nervte sich jetzt über eine Gruppe Russen, die doch tatsächlich mit allen ihren Kindern die dritte Parkettreihe bestürmte.

Lorchen mochte Russen nicht. Die zogen mit ihren pralldicken Brieftaschen durch Europa und kauften sich die Welt zusammen, als seien sie bei Aldi vor der Tiefkühltruhe.

UND MAN WUSSTE JA, WOHER DAS GELD STAMMTE.

Sie blieb demonstrativ sitzen, als die Russen sich an ihr vorbeidrückten. Nur Erwin stand lächelnd auf. Und die Tante zischte: «Bleib hocken – du weisst ja, was die von solchen wie dir halten…»

Wieder drückte Erwin die Knochenhand: «Tantchen – man darf das Leben nicht in Schwarz und Weiss aufteilen. Es gibt Zwischentöne. Die Grenzen sind fliessend…»

«So ein Schmarren», knurrte Lorchen. Und schob sich ein Eukalyptusbonbon rein.

Ihr war lieber gewesen, als gut noch gut und schlecht schlecht war – das Schlechte sass hinter dem Eisernen Vorhang. Das Gute davor. Kein ­Zwischending. Ein Jammer, dass dieser Polen-Papst da herumwursteln musste … typisch ­katholisch eben!

(Auch hier hatte Lorchen als Protestantin klare Vorstellungen von gut und schlecht.)

«… und das Parfum dieses russischen Flittchens …», zischte Lore. «… Ab drei Litern Moschus bekomme ich Migräne…»

«Ach Tantchen!», wieder Getätschel auf die Finger.

Schliesslich tippte der russische Familienvater Erwin auf den Arm. Ob er sie alle mal fotografieren könne… aber so, dass seine Olga und der Kronleuchter auch drauf seien. Und…»

Lore kochte: «Der klickt ganz bestimmt sein Handy nicht aus … das sind doch Barbaren… Kultur wie ein Kuharsch und…»

«Tantchen – sie haben auch den ‹Schwanensee› erfunden …» «Papperlapapp!» – das kleine Lockenköpfchen schüttelte sich wieder wie ein nasser Pudel. Dann ging das Licht aus. Und ein finnischer Herr Lehtinen dirigierte, was das Zeug hielt.

Als Giulia erstmals auf dem Balkon erschien, düüüdelte ein Handy.

«Na also», zischte Lorchen, «was habe ich gesagt! Kaufen sich für tausend Eier Theaterkarten – und lassen ihre Telefonate durch die Vorstellung rattern!»

Erwin ergriff hastig Tantchens seidene Abendtasche.

Dann stellte er ihr Handy auf «off».

Im Hotel schellte Lorchen sofort die Nummer zurück: «Ach Duuu bist es gewesen, Nelly? Du hast mitten in ‹Romeo und Julia› reingeklingelt …nein, macht gar nichts. Dieser Herr Prokofjew soll ja auch so einer von hinter dem Vorhang gewesen sein…»

Montag, 24. November 2014