Von Onkel Alphonse und Jesus im Zug

Onkel Alphonse war kein bäumiger Mann. Er mochte «diese Halleluja-Schleudern», wie er Tante Julchens lamettabehängte Weihnachtstannen immer wieder verbal in den Dreck zog, nicht. ABER GAR NICHT! «Das sind Heidenbesen», stänkerte er. «Was hat ein Baum mit der Geburt Christi zu tun?» «Und was hat dieser Zwetschgenschnaps mit unserer Steuerrechnung zu tun?», konterte die Tante bissig. Und räumte die Flasche mit dem Höllenwasser vom Pult mit den Steuerbelegen ab. «WEIBER», knurrte der Onkel. Aber es waren nicht die Weiber, es war die Adventszeit, die ihm jedes Jahr arg zusetzte. Und in eine Art verregnete Depression fallen liess. Es war am zweiten Adventssonntag, als er bei uns zu Hause anrief: «Bring die Kleinen», bellte er in den Hörer. «Ich werde mit ihnen eine Krippe bauen!» «Wenn du die Kinder wieder mit Eierlikör abfüllst, brat ich dich im siedenden Öl», fauchte die Mutter ihren Schwager telefonisch an. Rosie und ich aber hüpften wie die Heuschrecken im Adrenalinhoch herum: Onkel Alphonse war immer für eine heisse Nummer gut! Julchen und Alphonse wohnten in Kleinhüningen. Parterre. Und sehr dunkel. Es war eine Genossenschaftswohnung? und handbreit von ihren beiden klobigen Schlafzimmerbetten entfernt, ratterten auf dem Hinterhof Güterwagen vorbei. Sie lieferten der damaligen Ciba Rohstoffe zu. Kurz: Die Betten bebten. Und das war nicht die Schuld von Onkel Alphonse. Dieser Zug war längst abgefahren. «Wir bauen im Hof eine Krippe. Ich habe da so eine Idee», feuerte Alphonse uns an. Auf dem grauen Kies hatte er einen wackligen Tisch aufgestellt. Und diesen mit Tannenästen abgedeckt. Aus einer Kiste schälte er nun Hartgummifiguren heraus? wir erkannten Herrn Josef am Stab, Mutter Maria, auf einem Esel hockend.
Und dann IHN, in Stroh eingegossen und mit einem gelben Klacks, der wohl einen Heiligenschein andeuten sollte. Zu jener Zeit waren Krippen bei uns eher selten. Alphonse aber hatte sich von seinem Arbeitskollegen Luigi inspirieren lassen. Der rührte in der Fabrik die Farben an. Und weil dies eine langweilige Arbeit war, erzählte er dabei von seinem sizilianischen Heimatort Siracusa. Und wie die Männer dort ganze Dörfer zur Weihnachtskrippe aufbauen würden. «Habt ihrs kapiert, ihr Pfeifen?», schaute uns der Onkel nun erwartungsfroh an. «Das ist, als würde man eine Modelleisenbahn aufstellen. Mit den Dörfern bei den Geleisen, den kleinen Brücken und Bergen, den Schnapsläden und Boutiquen.» «So ein Blödsinn», kicherte Rosie, «in Bethlehem gabs doch keine Boutiquen.» Sie verpetzte Onkel Alphonse sofort bei Julchen. «Der Onkel will die Spieleisenbahn aufbauen. Und missbraucht den Jesus dazu!» «Jesses!», sagte die. Und: «ALPHONSE? WIR SIND GESCHIEDEN, WENN DU DIESEN ZIRKUS NOCH EINMAL HERVORHOLST!» Die Sache war nämlich so: Der Onkel war ein begeisterter Anhänger von Modelleisenbahnen. Die Tante nicht. Drei Wochen nach ihrer Ehe beschlagnahmte Alphonse die Stube der Zweizimmerwohnung. Er dirigierte seine Kleinzüge an zwei Gummibäumen, einem Porzellaneisbären sowie am Schnapsgläschen-Service mit der geschliffenen Karaffe vorbei. Wollte sich die Tante am Radio das «Wunschkonzert» reinziehen, kam sicher alle drei Minuten der Sonntagsexpress um ihre Füsse angekurvt.
SO KONNTE KEINE FREUDE AUFKOMMEN. Als der Onkel jeden Monat nach dem Zahltag mit Schachteln voll von Schmalspurschienen ankam und die Bahngegend zügig gleich mit Kunststoffhäuschen, Plastiktannen und winzigen Gummitierchen aufrüschte, wurde es der Tante zu viel. Julchen rackerte sich in der Stube nämlich mit Heimarbeiten ab. Sie flickte mit einem Kleinstapparat die ersten Nylonstrümpfe jener Zeit. Diese neumodischen Strümpfe waren so heikel wie die Präservative, welche die Franzosen den Schweizern damals andrehten. Immer wieder fiel eine Masche? und dann hatten die Weiber den Salat. Also schleppten sie ganze Säcke voll mit Fallmaschen zur Tante. Julchen hatte die Gefallenen wieder hochzuziehen. Mit dem Geld wollte sie sich einen Boston-Mixer mit angekoppelter Knetmaschine leisten? das war so ungefähr der Ferrari einer Hausfrau in den frühen Fünfzigern. Julchen arbeitete also am Stubentisch. Als nun eines Abends Alphonse seinen fussgrossen Lötschberg-Express volle Pulle vom Gummibaum über das Stuhlviadukt auf den Tisch jagen liess, hatte er vergessen, vorher die 80 Paar mühsam geflickten Strümpfe wegzuräumen. MEHR BRAUCHEN WIR WOHL NICHT ZU SAGEN! Die Tante sprach sieben Wochen lang kein Wort mehr mit Alphonse, bis endlich Zug um Zug abgerüstet und in Schachteln verstaut war. Und nun hatte Alphonse also einen Weg gefunden, seine Eisenbahn samt Landschaften wieder aufleben zu lassen. ER sollte dabei ganz gross zum Zug kommen. «Alphonse? was soll das!», tobte die Tante im Hinterhof und streckte ihr Kinn nach vorne.
Sie musste sehen, wie der Lötschberg-Express im Anhänger das Jesuskind transportierte und exakt vor der Maria auf dem Esel zum Halten kam. «Ich wollte den Kindern eine Freude machen», brummelte der Onkel kleinlaut.
«ALPHONSE!» «Ja, Julchen»? er tönte nun ganz klein. Und fing schon mal an einzupacken. Als wir am Heiligen Abend in Julchens Stube vor der Lamettatanne sassen, knurrte der Onkel bissig: «So ein Heidenbesen!» «ALPHONSE!» «Ja, Julchen!»

Sonntag, 9. Dezember 2012